Von Jennifer Schauer
Wie die Geheimdienstmitarbeiter*innen junge Schüler*innen in ihre graue Welt des „Extremismus“ holen – eine neue Marketingstrategie
Der kleine Verfassungsschutz-Adler im Klassenzimmer. Bild: Bundesamt für Verfassungsschutz
In meinen sechs Wochen Praktikum bei der Humanistischen Union begegnete ich dem „Verfassungsschutz“ (VS) in all seinen Facetten: Es waren nicht nur die intensive Recherche und Literaturarbeit, die mir einen erschreckenden Einblick in seine illegalen Machenschaften gewährten. Nein, es war außerdem die Begegnung mit jemandem, der zu Unrecht vom VS bespitzelt wurde und es war auch die Stimme eines ehemaligen VS-Beamten, die ich im Gerichtssaal während eines Verhandlungstages des NSU-Prozesses im OLG München hörte.
In unzähligen Momenten war ich empört über das, was ich las und hörte und immer dachte ich mir: „Das kann, das darf doch nicht sein!“ Meistens waren es Tatsachen, von denen ich (zumindest wissentlich) nicht betroffen war, die aber doch erheblich gegen mein Verständnis von Demokratie verstießen. In einem Punkt aber konnte ich mich erinnern, einmal selbst persönlich in Berührung mit dem VS gekommen zu sein. Die Erinnerungen gehen in meine Schulzeit zurück. Es muss die sechste oder siebte Klasse auf dem Gymnasium gewesen sein, als meine Lehrerin zur Auflockerung des damals noch sehr langweiligen Politikunterrichts einen Mann ankündigte, der hauptberuflich für Demokratie kämpfte und diejenigen genauer unter die Lupe nahm, die scheinbar gegen Demokratie und den Staat waren.
Ich wuchs im Spreewald auf, einer Region, in der es nur so vor Neonazis, Skins, Punks und anderen mir damals noch sehr skurril erscheinenden Leuten wimmelte. Also: Der Herr, der für den VS arbeitete und uns in der sechsten oder siebten Klasse besuchte, musste in unserer Region ordentlich zu tun gehabt haben. Was er uns in der Unterrichtsstunde erzählte, weiß ich nicht mehr genau, aber ich kann mich nur noch erinnern, dass er zur Freude aller bei der Verabschiedung Bonbons und Bleistifte verteilte. Das ist alles, was vom Besuch des VS-Beamten bei mir hängen geblieben ist. Seine Bemühungen waren also nicht besonders nachhaltig, wir haben danach auch nie wieder in der Klasse darüber gesprochen.
Das war bei mir gänzlich in Vergessenheit geraten, bis ich nun bei der Humanistischen Union (HU) während meines Praktikums wieder davon las, dass der VS gezielt Bildungsarbeit an Schulen betreibt. Jetzt, da ich viel tiefer im Thema stecke und einiges über den Geheimdienst gelernt habe, empört mich, was uns da damals in jener Stunde des Politikunterrichts eigentlich zugemutet wurde und was heutigen Schüler*innen scheinbar noch immer zugemutet wird. Was hat eine Versagerbehörde wie der „Verfassungsschutz“, der durch den NSU-Skandal sein wahres Gesicht zeigen musste und der nun eine Aufklärung von zehn Morden, etlichen Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen sichtlich behindert, an Schulen verloren?
Auf diese Frage würden mir die VS-Behörden sicherlich eine Antwort mit freundlichen Grüßen geben, ganz sachlich und objektiv wollen sie ihrem gesetzlichen Auftrag zufolge über (wie sie es nennen) „extremistische“ Bestrebungen in der Gesellschaft informieren, und zwar alle Bürger*innen, also auch Schüler*innen. Für mich persönlich liegt es aber auf der Hand: Der VS will sein Image aufpolieren, welches er selbst beschmutzt hat. Er ächzt nach neuem Vertrauen und Anerkennung, welches die Bürger*innen eigentlich seit Gründung des VS im Jahr 1950 nicht hatten oder aber mit jedem neu öffentlich gewordenen Skandal verloren haben. So bestätigte auch BKA-Chef Jörg Ziercke mit den gleichen Gedanken meinen Verdacht: die Behörden müssen sich „Vertrauen und Achtung der Bevölkerung zurückgewinnen“.
Schüler*innen lernen wie ein Geheimdienst die Demokratie überwacht. Bild: Augen auf/pixelio
Die VS-Beamt*innen, die von Schule zu Schule ziehen, scheinen sich von jungen Schüler*innen am meisten zu versprechen. Klar, die fragen vermutlich auch nicht so kritisch nach oder erzeugen verfahrene Situationen, in denen sich die Beamt*innen für irgendetwas rechtfertigen müssen. Es ist unerhört! Und der Meinung bin ich nicht nur, weil ich mich rückblickend manipuliert und beeinflusst fühle, sondern weil ich weiß, dass der VS keinerlei rechtliche Grundlage für seine Bildungsarbeit hat – er ist kein Bildungsträger, sondern ein Geheimdienst. Lediglich eigens eingerichtete Bildungsinstitutionen sind unabhängig und haben haben den entsprechenden Bildungsauftrag.
Der VS indes empört sich über den „Vorwurf“, er würde politische Bildungsarbeit betreiben. Dies sei nämlich gar nicht der Fall. Was da an den Schulen stattfinde, sei schlichtweg Öffentlichkeitsarbeit – in Eigensache. Aber selbst die Medien berichteten in den letzten Jahren davon, dass der VS seine sogenannte Öffentlichkeitsarbeit zunehmend durch Bildungsarbeit ergänze. Diese Annahme liegt auch nahe, wenn man betrachtet, dass die Informationsveranstaltungen der VS-Behörden zunehmend in Schulgebäuden stattfinden, obwohl es doch viele andere Einrichtungen gibt, in denen der VS die breite Bevölkerung erreichen könnte. Stattdessen zieht der VS mit Schüler*innen eine neue Zielgruppe für ihre Zwecke heran.
Dazu kommt, dass die Behörden extra Materialien für ihre angebliche Öffentlichkeitsarbeit erarbeitet haben: Comics, Planspiele, eine Grundrechtefibel, Wanderausstellungen und viele andere mehr. Das LfV Hessen bietet sogar Lehrerfortbildungen an. Die Klage des VS, er würde keine Bildungsarbeit betreiben wollen, ist irrig. In vielen Bundesländern arbeiten die Landeszentralen für politische Bildung eng mit den VS-Behörden zusammen. Als würde allein diese Tatsache nicht schon genug Aufsehen erregen, begegnet einem der Gau, wenn man recherchiert, wie der Stand der Dinge in der Landeszentrale der politischen Bildung Niedersachsens ist. Die gibt es nämlich gar nicht mehr. Im Zuge von Verwaltungsreformen wurde sie am Ende des Jahres 2004 geschlossen. Stattdessen übernahm zeitweise eine neu eingerichtete Abteilung des VS Niedersachen mit Namen Neis (Niedersächsische Extremismus-Informationsstelle) den Bildungsauftrag. Spätestens jetzt ist es augenscheinlich, dass die „Öffentlichkeitsarbeit“ des VS an Schulen ein ungeheures Kalkül ist. Neis wurde zwar 2013 von der rot-grünen Landesregierung eingestellt. Die Niedersächsische CDU, derzeitige Opposition, würde die Stelle aber gern wieder ins Leben rufen.
Ein Blick in die Inhalte, die Geheimdienstmitarbeiter*innen den Schüler*innen vermitteln, eröffnet den zweiten und für mich schwerwiegenderen Kritikpunkt. In einem Comic des LfV Nordrhein-Westfalen begegnen Andi, ein junger Schüler, und seinen Freunden „Rechts- und Linksextremismus“ und „Islamismus“ im Alltag. Klischeehaft illustriert soll den Leser*innen anhand von Geschichten die Gefahren aufgezeigt werden. Jene Gefahren, die die „Extremisten“ auf die sogenannte „freiheitlich demokratische Grundordnung“ (fdGO) ausüben. Dabei gehen die Autor*innen aber keineswegs politikwissenschaftlich neutral vor, was durchaus für Bildung angebracht wäre. Als sich in einer Szene „Links- und Rechtsextremisten“ gegenüberstehen, merkt Andi, dass sie für ihn beide das gleiche reden und das gleiche wollen, nämlich eine Diktatur und keine Demokratie. Und trotzdem hegen beide Lager Antipathien gegeneinander. Darüber hinaus sind „Linksextremisten“ in ganzer Linie gewalttätig. Hier zeigt sich der ideologische „Verfassungsschutz“.
„Extremismus“ ist ein Kampfbegriff, dessen Definition allein der VS geschaffen hat und nun auf Verdächtige anwendet. Dabei folgt der Begriff der Totalitarismustheorie, bei der es eine politische liberale Mitte gibt und alle davon abweichenden Haltungen aus dem politischen Spektrum an den Rand gedrängt werden. So sind „Links- und Rechtsextremismus“ im Andi-Comic eben zu einer Randgruppe zusammengefasst, ganz gleich, welche ideologischen Unterschiede sie vorweisen. Nach diesem Verständnis erklären die VS-Beamt*innen den Schüler*innen also, dass jeder, der keinen Staat nach dem aktuellen Demokratiemodell möchte, „Extremist“ ist und deswegen vom VS überwacht wird, damit er keine Dummheiten macht. Basta.
Stop watching us – auch an Schulen! Bild: Elvert Barnes/ flickr
Dass die „nachrichtendienstlichen Mittel“, die der VS für seine Gesinnungsschnüffelei einsetzt, ebenso fragwürdig sind wie seine gesamte Arbeit, wird mit Sicherheit nicht thematisiert. Kein*e Schüler*in wird erfahren, welches riesige Problem hinter den V-Leuten steckt, die die VS-Behörden aus den „extremistischen“ Szenen rekrutieren und entlohnen – obwohl sie die Szene damit vielleicht finanzieren. Oder dass sich der VS in seiner Arbeit an den Grundrechten der Bürger*innen bedient, sie in ihrer Privatsphäre verletzt und zu Unrecht ausspioniert, wird den Schüler*innen sicher auch nicht unter die Nase gerieben. Die VS-Beamt*innen verstehen sich als „Demokratielotsen“, aber ihre Bildungsarbeit hat weder einen pädagogischen Auftrag noch ein didaktisch wertvolles Konzept. Sie fahren schlichtweg eine neue Marketingstrategie für ihre Behörde, die keine Glaubwürdigkeit mehr in der Gesellschaft besitzt.
Die Schüler*innen lernen so, dass ein für die Demokratie wünschenswerter und notwendiger Meinungspluralismus im Sinne der VS-Behörden „Verfassungssfeindlichkeit“ bedeutet. Und dass die Demokratie untergeht, wenn wir in unserer Gesellschaft Menschen dulden, die sie nicht oder anders haben wollen. Es geht also um die Gefahren für die politischen Institutionen und für den Staat. Die Gefahren, die für die Gesellschaft und deren Mitglieder entstehen könnten, interessieren nicht. Ein Armutszeugnis. In vielen Medien entsteht die Auffassung, dass andere – etwa Sozialwissenschaftler, Meinungsforscher, etc. – kompetentere und objektivere Aufklärung zu politischen Bestrebungen in der Gesellschaft betreiben können. Die Schüler*innen ihrerseits sind vermutlich beeindruckt von den VS-Beamt*innen, der sich als Superheld*innen in Sachen Bösewichten-Bekämpfung verstehen und sie mit glitzernden Bonbons und Stiften auf seine Seite ziehen. Und viele Lehrer sind sicherlich erfreut darüber, dass ihr Unterricht einmal lockerer wirkt. Ja geht’s denn noch?
Über die verzerrten Darstellungen der politischen Einstellungen in der Gesellschaft, die die Möchtegern-Expert*innen vom VS den Schüler*innen rüberbringen, kann ich nur den Kopf schütteln. In Deutschland gilt in Belangen der Bildung das Kontroversitätsgebot: Was in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird – das ist auch die Arbeit und der Sinn des VS – muss ebenso kontrovers in der Schulbildung diskutiert werden. Davon kann bei den Imageaktionen des VS keine Rede sein. Kein*e VS-Beamte*r informiert die Schüler*innen, dass der eigene Beruf und die eigene Tätigkeit eigentlich überflüssig und darüber hinaus auch gefährlich für die Demokratie sind. Wieder einmal zeigt sich, dass der VS – egal was er anpackt oder initiiert – nicht von Erfolg gezeichnet ist. Dass sich auch seitens der Schüler*innen und Bürger*innen in den vergangenen Jahren nun Protest und Empörung zeigt, lässt hoffen und ein wenig aufatmen.
Der VS hat in den Schulen und der politischen Bildungsarbeit absolut nichts zu suchen. Meine Recherche zu diesem Thema hat mich dazu bewogen, das Gespräch mit den Lehrer*innen meiner ehemaligen Schule zu suchen, mit denen ich noch in gutem Kontakt stehe. Hoffentlich müssen nicht mehr allzu viele Schülerjahrgänge unter der Propaganda-Arbeit des VS leiden und hoffentlich akzeptieren die Schüler*innen auch Bonbons und Stifte von Leuten, die sich mit Politik und Demokratie besser auskennen als die VS-Beamt*innen. Erziehung zur Demokratie, wenn eine solche überhaupt durch Lehrer*innen oder andere Personen stattfinden und bewältigt werden kann, sollte doch gerade darauf abzielen, die Stärken der Demokratie aufzuzeigen und deutlich zu machen. Toleranz, Akzeptanz, Pluralismus, Zivilgesellschaft, etc. – all diese Begriffe sollten in ihrer Bedeutung und Wichtigkeit vermittelt werden und das vor allen Dingen didaktisch angemessen. Weil ich persönlich das als Maxime für politische Bildungsarbeit ansehe, kann ich nur dafür plädieren: „Verfassungsschutz“ – raus aus den Schulen und der Bildung!
Jennifer Schauer
Zum Weiterlesen:
Broschüre Bildung ohne Geheimdienst