Rolf Gössner
Wie der Verfassungsschutz kritische Kommentare zu geistiger Brandstiftung erklärt
Stellen Sie sich vor, Unbekannte verüben einen Brandanschlag auf das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Am Tatort findet die Polizei, statt eines »Bekennerschreibens«, die Kopie eines Artikels aus dem Grundrechte-Report 2004 mit dem Titel »Engagierte Bürger unter Beobachtung – Antidemokratische Verrufserklärung durch die Verfassungsschutzämter«. Schon am nächsten Tag findet sich auf der Website des Verfassungsschutzes ein Artikel, in dem der Anschlag zum Thema gemacht und der Text aus dem Grundrechte-Report so gewürdigt wird: »Der am Tatort gefundene Artikel reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert. «
Dieser Fall ist keine Erfindung, sondern bundesdeutsche Realität. Der Anschlag war zwar nicht gegen den Verfassungsschutz gerichtet, sondern gegen die Ausländerbehörde in Frankfurt/Oder. Es handelte sich auch um keinen Brandanschlag, sondern die unbekannten Täter zerschlugen im September 2003 Fensterscheiben, verschmierten die Schlösser der Außentüren mit Klebstoff und sprühten Parolen. Am Tatort hinterließen sie den Abdruck eines Artikels über Flüchtlingspolitik, der auf der World Socialist Web Site der Partei für Soziale Gleichheit steht (www.wsws.de). Diese Partei tritt für eine sozialistische Politik und die Verteidigung sozialer Rechte ein. Titel des Artikels: »Abschiebepolitik und Grenzregime — Die tödlichen Folgen deutscher Flüchtlingspolitik«. Die Autorin Lena Sokoll setzt sich darin kritisch mit der Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik auseinander. Sie prangert die Zustände an den deutschen und europäischen Grenzen an, beziffert die Opfer der Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge, schildert die Praxis der Abschiebehaft und der Abschiebungen, durch die zahlreiche Betroffene zu Schaden, einige zu Tode gekommen sind.
»Argumentationsschema von Linksextremisten«
Wenige Stunden nach dem Anschlag veröffentlicht der brandenburgische Verfassungsschutz auf seiner Homepage einen Beitrag voller Verleumdungen und Unterstellungen. Der Sokoll-Artikel belege den »linksextremistischen Hintergrund der Tat« und die »Bezüge der Täter zum linksextremistischen Spektrum«. Die Autorin klage die Ausländerbehörden sowie Polizei und BGS an, »menschenverachtend mit Flüchtlingen und Ausländern umzugehen«. Schließlich behaupte die Autorin, dass Abzuschiebende wiederholt verletzt worden oder gar zu Tode gekommen seien. Für den Verfassungsschutz lauter linke Hirngespinste?
Sodann widmen sich die Verfassungsschutz-Autoren dem »Argumentationsschema von Linksextremisten«, dem auch Sokolls Artikel folge. »Die Behauptung, dass die Ausländerpolitik der Bundesregierung mit rechtsextremistischer Ausländerfeindlichkeit gleichzusetzen sei«, finde sich »in vielen linksextremistischen Veröffentlichungen«. Will sagen: Deshalb müssen alle, die auch nur annähernd ähnlich argumentieren, linksextremistisch sein. In solchen Veröffentlichungen werde behauptet, so der Text des Verfassungsschutzes weiter, »dass der Staat durch sein Handeln Rechtsextremisten geradezu ermutige, gegen Ausländer und Flüchtlinge gewaltsam aktiv zu werden«. Tatsächlich schrieb Lena Sokoll von der politischen »Verantwortung für den grassierenden Rassismus, die Politiker wie der deutsche Innenminister Otto Schily tragen, wenn er in Bezug auf Flüchtlinge die >Grenzen der Belastbarkeit< beschwört«. Seit der Demontage des Asylgrundrechts haben Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler auf solche Auswirkungen immer wieder warnend hingewiesen.
Geheimdienstliche Verrufserklärung
»Man wird der Autorin des Aufsatzes nicht nachsagen können, für den Anschlag […] direkt verantwortlich zu sein. Strafrechtlich ist ihr nichts vorzuwerfen, schließlich hat sie an keiner Stelle zur Gewalt aufgerufen.« Großzügigerweise macht der Verfassungsschutz die Autorin nicht »direkt« für den Anschlag verantwortlich — aber indirekt schon. Schließlich sei die Flüchtlingspolitik »eines der zentralen Themen von gewaltbereiten Linksextremisten«, die »gerade auch mit dieser Thematik Gewalt gegen Personen und Sachen« legitimierten. Wer also diese Thematik in ähnlich kritischer Weise behandelt, macht sich zwar nicht strafbar, arbeitet aber Gewalttätern in die Hände, ist geistiger Brandstifter: »Der […] am Tatort gefundene Artikel reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert. «
Die Partei für Soziale Gleichheit hat sich gegen die geheimdienstliche Diffamierungskampagne zur Wehr gesetzt und den Verfassungsschutz aufgefordert, die diskriminierenden Textpassagen unverzüglich zu löschen. Der Verfassungsschutz handele rechtswidrig, wenn er den Artikel und seine Autorin gegenüber der Öffentlichkeit als »linksextremistisch« einordnet, als gewaltfördernd diffamiert und geistige Miturheberschaft behauptet. Der Verfassungsschutz missbrauche mit dieser Verrufserklärung seine Befugnis, die Öffentlichkeit zu unterrichten. Das müsse sich kein Autor und keine Partei von einer staatlichen Institution gefallen lassen.
Der Leiter der Verfassungsschutzbehörde Brandenburg antwortete lapidar und ohne Anflug von Unrechtsbewusstsein: Er könne in dem Beitrag des Verfassungsschutzes weder ehrverletzende Äußerungen und unwahre Tatsachenbehauptungen noch strafrechtlich relevantes Handeln erkennen. Deshalb werde der Text nicht entfernt. Weiteren Schritten sehe die Behörde »mit Gelassenheit entgegen«. Als die Geschädigten Klage gegen den Verfassungsschutz erheben wollten, stellte sich Anfang 2004 heraus, dass die Veröffentlichung nicht mehr abrufbar ist. Der Verfassungsschutz begründete das mit technischen »Veränderungsarbeiten« an der Website. Darin sei kein Schuldeingeständnis zu sehen. Der Verfassungsschutz halte seinen Text nach wie vor für nicht beanstandungswürdig.
Die Argumentation des Verfassungsschutzes rückt jede pointierte Kritik an staatlicher Politik, jede harte Kritik an Regierungshandeln in den Dunstkreis der Förderung und Unterstützung strafbarer Handlungen und von Gewalt. Die Einstufung des Artikels als »linksextremistisch« und letztlich anschlagsrelevant ist willkürlich. Sie beeinträchtigt die verfassungsmäßigen Rechte der Autorin, der Partei und ihrer Funktionäre, sie ist ein Angriff auf deren Persönlichkeitsrechte, auf das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit und auf die Parteienfreiheit.
aus: Grundrechte-Report 2005 , S. 87-90