CDU und FDP haben mit der Regierungsübernahme 1981 in Berlin den „Ausschuss für Sicherheit“, der in Berlin auch für die Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständig war, abgeschafft. Damit sollte verhindert werden, dass die Alternative Liste (AL), die bei der Wahl ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen war, einen Sitz im „Sicherheitsausschuss“ bekäme. Sechs Jahre konnte der Verfassungsschutz in Berlin ohne eine parlamentarische Kontrolle agieren.
Erst im März 1987, nach immer wiederkehrenden Hinweisen über skandalträchtige Ausforschungen von Parteien und Journalisten („Halb Berlin wird überwacht“, taz vom 08. 12. 1987) und als ruchbar wurde, wie tief der Berliner Verfassungsschutz in die Schmücker-Affäre verstrickt war, wurde wieder eine „Parlamentarische Kontrollkommission“ (PKK) eingerichtet. Allerdings waren nur CDU, SPD und FDP in der PKK vertreten, die AL blieb ausgeschlossen.
Im November 1988 legten die SPD Mitglieder Hans-Georg Lorenz und Erich Pätzold unter Protest ihre Sitze in der PKK nieder, da ihnen „rechtliche gebotene Auskünfte in Verfassungsschutzangelegenheiten“ verweigert wurden und sie sich für dies „rechtswidrige Praxis“ nicht „als Feigenblatt hergeben“ wollten. („Die Freiheit stirbt zentimeterweise“ in:Der Spiegel vom 21. 11. 1988)
Ein Beispiel dazu unter vielen: Über den früheren Redakteur der „Tageszeitung“ Michael Sontheimer, der danach für „Die Zeit“ tätig war, wurde seit 1980 eine Akte beim Verfassungsschutz geführt. Die SPD-Mitglieder der PKK wollen im April 1988 Auskunft darüber haben, in welcher Weise die taz und andere Journalisten in Berlin bespitzelt wurden und forderte dazu auch die Akte Sontheimer an. Zunächst erklärte der Präsident des Verfassungsschutzes Wagner, er wisse nicht, ob die Akte überhaupt existiert, um kurz darauf mit zuteilen, dass die Akte im April vernichtet worden war.(taz vom 08. 02. 1989)
Im November 1988, nachdem Pätzold und Lorenz ihre Sitze in der PKK niedergelegt hatten, prangerte der SPD-Chef Walter Momper in einem 14 Seiten umfassenden Schreiben an den Regierenden Bürgermeister Diepgen (CDU) die ihm bekannt gewordenen „skandalösen Praktiken des Berliner Verfassungsschutzes“ an.
Die Tageszeitung („Schwerwiegende Fehlentwicklung“ vom 30.11. 1988) und der Spiegel („Die Freiheit stirbt zentimeterweise“, vom 21.11. 1988) veröffentlichten das „vertrauliche“ Schreiben in Auszügen. Momper erhebt darin schwerwiegende Vorwürfe: Über die SPD seine Sonderberichte angefertigt worden, die AL würde systematisch ausgeforscht auch mittels V-Leuten, die Tätigkeiten einer großen Zahl von Journalisten nicht nur von der“ taz“ würden beobachtet, Rechtsanwaltsbesuche bei angeblich „fragwürdigen“ Gefangenen würden beobachtet, Telefongespräche von Ilse Schwipper, der Hauptangeklagten im Schmücker-Prozess, auch mit ihrem Verteidiger seien abgehört und aufgezeichnet worden, Hans-Jürgen Przytarski, der ehemalige stellvertretende Amtsleiter habe sich 1986 Fluchthilfeunterlagen, in denen mögliche Aktivitäten führender CDU-Politiker festgehalten waren, vorlegen lassen und dann gegen den Widerspruch der zuständigen Mitarbeiter vernichten lassen.
Der Innensenator Kewenig (CDU) wies die Vorwürfe zurück, Es gäbe keine Fehlentwicklungen beim Berliner Verfassungsschutz und die immer wieder erhobenen Vorwürfe seien Hirngespinste und einige der Vorwürfe seine „erstunken und erlogen“.
Auf Forderung von SPD und AL wurde noch zwei Monate vor den 1989 anstehenden Wahlen ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet der einig der Anschuldigen noch untersuchen und bestätigen konnte.
Bekannt wurde dabei auch, dass das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz sämtliche Besucher von sogenannten Terroristenprozessen namentlich erfasst und in der Hinweisdatei „NADIS“ abgespeichert hatte. Nicht nur personenbezogene Daten waren von Interesse, es wurden auch über Autoschlüssel, die den Besuchern abgenommen wurden, deren Autos identifiziert und dem VS gemeldet.
Auch die „Personendaten ganzer Schulklassen, die ihren Staatskundeunterricht in einen Gerichtsaal verlegt hatten, wurden erfasst, wie die von tausenden anderen Prozessbesuchern“. (taz vom 24. 01. 1989, „Prozessbesucher in Berliner Terrordatei)
Nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Ende Januar 1989 übernahm ein rot-grüner Senat unter Walter Momper (SPD) als Regierendem Bürgermeister die Regierungsverantwortung. Pätzold wurde neuer Innensenator und berief zwei Wochen nach seinem Amtsantritt eine fünfköpfige „Projektgruppe Verfassungsschutz“ unter Leitung des ehemaligen Staatsanwalts Hans-Jürgen Fätkinhäuser.
Der Auftrag lautete: „das Landesamt für Verfassungsschutz von Grund auf zu durchleuchten und, zusammen mit dem Datenschutzbeauftragten, zukunftsweisende Vorschläge für eine Neuorientierung zu erarbeiten“.
Parallel dazu wurde an Stelle der PKK ein “ Ausschuss für Verfassungsschutz“ eingesetzt.
Der erste Bericht, den die Projektgruppe dem Verfassungsschutzausschuss im Juli 1989 vorlegte, kommt zu einem vernichtenden Urteil:
„Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen“ habe das Amt jahrelang nicht zur Kenntnis genommen. Berlins Verfassungsschutz kranke mithin weniger an „Fehlentwicklungen“ als vielmehr an „seinem Unvermögen, sich überhaupt zu entwickeln“. (Der Spiegel Nr. 30/1989, „Ungeheurer Wildwuchs“)
In dem ersten wie in den Folgeberichten der Projektgruppe werden die Vorwürfe über Verfehlungen und Rechtsverletzungen, über die die Medien in den Vorjahren berichtet hatten, bestätigt.
In der Kanzlei des Rechtsanwaltes Philipp Heinisch, er verteidigte Ilse Schwipper als Hauptangeklagte in dem Feme-Mordfall Ulrich Schmücker, war der V-Mann des Verfassungsschutzes Christian Hain, Deckname Flach, als Rechtsanwaltsgehilfe eingeschleust worden.
Der Verfassungsschutz setzte einen Spitzel, der „Fall Telschow“, so hieß der Spitzel, auf den innenpolitischen Sprecher der SPD und Mitglied der PKK, die den Verfassungsschutz kontrollieren soll, an. Die Ausforschung sei zielgerichtet mit Billigung des Abteilungsleiters erfolgt. Steffen Telschow sollte herausfinden, woher Pätzold interne Informationen über den Verfassungsschutz erhielt.
Telschow war zuvor als Gewalttäter –Steinewerfer bei einer Demonstration – verurteilt worden. Dabei verschwieg der Staatsanwalt dem Gericht, dass der Angeklagte V-Mann des Verfassungsschutzes ist.
V-Leute waren jahrelang in der Tageszeitung platziert.
Der Verfassungsschutz arbeitete weiterhin mit einem Journalisten als V-Mann zusammen, nachdem der Innensenator Kewenig erklärt hatte, der VS würden keine Journalisten als geheime Mitarbeiter beschäftigen.
Auf eine unbedeutende Gruppierung aus Kreuzberg wurden gleich mehrere Mitarbeiter angesetzt, „weil die für die V-Mann Führung verantwortlichen Mitarbeiter von der gegenseitigen Arbeitslage keine Kenntnis hatten“.
Der Verfassungsschutz hat V-Leute „selbst unter schwerem Druck zu schützen“ versucht und dadurch der „deutschen Rechtspflege“ schweren Schaden zugefügt.
Er habe den zwangsläufigen Verdacht in Kauf genommen, „kriminelle Handlungen“ zu unterstützen.
Über eine Million Mark ist ohne nachvollziehbare Begründung zum Schutz eines einzelnen geheimen Mitarbeiters und seines Kontaktmannes im Amt ausgegeben worden.
Bis 1987 waren 12 V-Leute und ein „Under-cover-agent“ auf die Alternative Liste (AL) angesetzt. Es wurde insgesamt 50 Berichte angefertigt, die unter der Aktenstelle „Infiltration der Alternativen Liste“ chronologisch geführt wurden.
Der VS hatte eine personenorientierte AL-Hinweisdatei und eine sachorientierte AL-Strukturdatei eingerichtet. 1.173 Personen waren erfasst „bei denen eine Affinität zur AL bestand oder vermutet werden konnte“. Auch über die „Finanzkraft der Partei“ war ein Bericht erstellt worden.
Die Skandalgeschichte ist damit nicht zu Ende, die Projektgruppe setzt ihre Arbeit 1990 fort, um noch mehr Licht in die dunklen Machenschaften des Berliner Amtes zu bekommen.
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Der Spiegel Nr. 49/1989, „Alles gelogen“
Der Spiegel Nr.30/1989, „Ungeheurer Wildwuchs“
Der Spiegel Nr. 4/1989, „Einige dieser Herren sind Ganoven“
taz 03. 10. 1989 „Verfassungsschutz löschte eigene Datenspur“
taz 20. 07. 1989 „Vernichtendes Urteil für Berlins Verfassungsschutz“
taz 28.11. 1989 „AL systematisch ausspioniert“