Ist Kritik am Kapitalismus verfassungsfeindlich?

Eckart Spoo

Jahr für Jahr wird die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –Bund der Antifaschisten (VVN-BdA)  in den Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern unter den sog. „linksextremistischen Bestrebungen“ aufgeführt. Ihr werden keine Gesetzesbrüche oder Ge­walttätigkeiten vorgeworfen, stattdessen wird ihr eine »Pro­paganda« angelastet, »nach der Rechtsextremismus im inneren Zusammen­hang mit marktwirtschaftlichen Ordnungssystemen steht«. Der Verfassungsschutz erklärt kurzerhand jegliche Kritik am Kapitalismus zur Kritik an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Der Geheimdienst darf die öffentliche Meinungsbildung nicht einschränken

Der saarländische Landtag beschloss im September 2005 in ers­ter Lesung ein Gesetz zum Schutz der Gedenkstätte »Ehemaliges Gestapo-Lager Neue Bremm« und überwies es zur weiteren Beratung an seinen Innenausschuss. Der lud dann für Anfang November zu einer Anhörung ein. Zu den Eingeladenen ge­hörte der Landesverband Saar der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –Bund der Antifaschisten; die VVN hatte sich seit Jahrzehnten für diese Gedenkstätte eingesetzt. Doch we­nige Tage später wurde sie ausgeladen. Ausschussvorsitzender Günter Becker (CDU) schrieb: »Da Ihre Organisation unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht, halten wir es mit dem Selbstverständnis eines Landtagsausschusses, der Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist, für unvereinbar, diese Ein­ladung aufrechtzuerhalten. « Wohlgemerkt: Die Ausgrenzung der VVN – der weitaus größten deutschen Organisation von Überlebenden der Verfolgung und des Widerstands und von jüngeren Antifaschisten – wurde nicht mit bestimmten Ergeb­nissen geheimdienstlicher Überwachung begründet, es genügte die bloße Tatsache der Überwachung.

Pranger Verfassungsschutzbericht

Jahr für Jahr wird die VVN in Verfassungsschutzberichten an­geprangert, und zwar jeweils im Kapitel »Linksextremistische Bestrebungen«, worunter der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst antikapitalistische und antiimperialistische Bestrebun­gen versteht. Zur Einleitung dieses Kapitels im 2005 erschiene­nen Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministers heißt es: »Die Aktionsformen von Linksextremisten variieren. Sie reichen von öffentlichen Kundgebungen und offener Agitation (mit Flugblättern, Plakataufrufen, periodischen Schriften, elek­tronischen Kommunikationsmedien) über die Beteiligung an Wahlen bis zu Bemühungen der verdeckten Einflussnahme in gesellschaftlichen Gremien. Für einige Linksextremisten sind auch Gesetzesverletzungen einschließlich offen oder verdeckt begangener Gewalttaten (wie Sachbeschädigungen, militante Zusammenrottungen und Körperverletzungen) ein Weg zur Durchsetzung politischer Ziele.« In Ruhe gelesen heißt das: Für die Einstufung als »linksextremistisch« kommt es auf die Aktionsformen der einzelnen Organisation nicht an; es genügt schon, wenn sie von Grundrechten wie Demonstrations- oder Pressefreiheit Gebrauch macht. Von Gesetzesbrüchen oder Ge­walttätigkeiten ist im Abschnitt über die VVN keine Rede. Of­fenbar erbrachte die Überwachung dafür keinerlei Hinweise. Angelastet wird der VVN stattdessen vor allem eine »Pro­paganda, nach der Rechtsextremismus im inneren Zusammen­hang mit marktwirtschaftlichen Ordnungssystemen steht«. Viel schroffer hat es einst der liberalmarxistische Sozialwissen­schaftler Max Horkheimer formuliert: »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen. «

In dem ganzen Kapitel und auch in anderen Teilen des Berichts präsentiert sich der »Verfassungsschutz« genann­te Geheimdienst hauptsächlich als Hüter des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nicht als Schützer der Verfassung. Einem VVN-Funktionär, einem namentlich genannten Geschichtswis­senschaftler, wird beispielsweise vorgeworfen, er habe beklagt, dass eine »antifaschistische Perspektive auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Triebkräfte für Faschismus und Krieg« im derzeitigen gesellschaftlichen Diskurs zu kurz komme. Ähn­lich wird dem alljährlichen »Friedenspolitischen Ratschlag« in Kassel »Festhalten an einer leninistischen Kriegsursachen­analyse« angelastet – ohne dass in dessen Verlautbarungen der Name Lenin vorgekommen wäre. Der Geheimdienst meinte offenkundig eine Ursachenanalyse, die kapitalistisch-imperia­listische Profit- und Machtinteressen nicht ausspart.

FdGO als Synonym für Kapitalismus?

Nirgendwo im Grundgesetz wird die freiheitliche demokrati­sche Grundordnung als Synonym für Kapitalismus verwendet (bewusst hatte der Parlamentarische Rat die Festlegung auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem vermieden), doch die Ver­fasser der Verfassungsschutzberichte, namentlich des Berichts aus dem Bundesinnenministerium, betreiben systematisch eben diese Synonymisierung; die Leser werden von vornherein dazu angehalten, »extremistische Bestrebungen« als »verfassungs­feindliche Bestrebungen« zu verstehen (S. 25). Wer das ka­pitalistische Wirtschaftssystem überwinden will, gilt also als Verfassungsfeind. Der 2005 vom damaligen Minister Otto Schily (SPD) herausgegebene Verfassungsschutzbericht geht so weit, den Antifaschismus insgesamt in diesem Sinne zu ver­urteilen: »Der >Antifaschismus<, das traditionelle Aktionsfeld und -thema für Anhänger und Gruppierungen des Linksextre­mismus, richtet sich seit jeher nur vordergründig gegen den Rechtsextremismus; er hat letztlich eine systemüberwindende Stoßrichtung, um die angeblich unserer Gesellschaftsordnung immanenten Wurzeln des Faschismus zu beseitigen. « Hätten erklärte Antifaschisten wie Thomas Mann doch nur rechtzeitig bei Otto Schily nachschlagen können!

In gleichem Sinne beanstandet der Bericht (S. 145), dass nicht nur »Widerstand und Protest« sowie »Anspruch auf Mit- und Umgestaltung«, sondern auch »über den Kapitalis­mus hinausweisende Alternativen« zum Programm der PDS gehörten. Unter dem Stichwort »Systemüberwindung« zitiert er: »Es ist unsere Überzeugung, dass die Gesellschaft verändert werden muss und verändert werden kann – und zwar zum Bes­seren für die Menschen.« Angekreidet wird der PDS auch ihre humanitäre Hilfe für Kuba, verbunden mit dem Eintreten »für das Recht auf Souveränität und Selbstbestimmung« Kubas (S. 155). Die PDS-Politikerin Sahra Wagenknecht wird durch mehrmalige Nennung angeprangert, z. B. wegen ihrer Wahl in den Parteivorstand und ihrer Wahl ins EU-Parlament, ohne dass irgendetwas erwähnt würde, was sie sich hätte zuschul­den kommen lassen (S. 148) – offenbar nur deswegen, weil sie aus ihren kommunistischen Zukunftshoffnungen keinen Hehl macht. Angeprangert werden auch Medien wie das VVN-Or­gan antifa, das deutsche Internetportal Indyncedia (es verstehe sich selber als »Teil eines weltweiten Widerstands gegen die ka­pitalistische Globalisierung«) und — erstmals 2005 — die Berliner Tageszeitung  junge Welt (»… propagiert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft«). Diese von einer Genossenschaft ihrer Leser herausgegebene Zeitung war es, der ich die einlei­tend wiedergebene Begebenheit aus dem Saarland entnehmen konnte; sie berichtet als einzige Zeitung regelmäßig auch auf einer eigenen Seite über Neonazismus und Antifaschismus.

Bundesverfassungsgerichtsentscheidung

Legt man freilich einen Beschluss des Ersten Senats des Bundes­verfassungsgerichts vom 24. Mai 2005 (1 BvR 1072/01) zugrun­de, dann sollte man annehmen, dass es mit der Überwachung der jungen Welt und ihrer Erwähnung im Verfassungsschutz­bericht rasch ein Ende haben wird. In dem Verfahren führ­te die — politisch entgegengesetzte — Berliner Wochenzeitung Junge Freiheit Beschwerde gegen ihre Erwähnung speziell im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht. Da ging es allerdings nicht um Kritik am Kapitalismus, sondern um The­men wie »nationalistisch und rassistisch begründete Fremden­feindlichkeit« und »Verharmlosung und Relativierung von NS-Verbrechen« sowie um Forderungen, »die mit grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere der Achtung vor den im Grundgesetz konkreti­sierten Menschenrechten (…), nicht im Einklang stehen« (siehe Neue Juristische Wochenschrift 2005, S. 2913 ff.). Der Senat erklärte die Verfassungsbeschwerde für begründet und argu­mentierte, die Pressefreiheit schütze »vor Einflussnahmen des Staates auf die mit Hilfe der Presse verbreiteten Informationen, insbesondere vor negativen oder positiven Sanktionen, die an Inhalt und Gestaltung des Presseerzeugnisses anknüpfen«. Eine Veröffentlichung im Verfassungsschutzbericht sei eine »an die verbreiteten Kommunikationsinhalte anknüpfende, mittelbar belastende negative Sanktion«, denn: »Potenzielle Leser können davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben und zu lesen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im Verfas­sungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder sie zu boykottieren. Eine solche mittelbare Wirkung der Verfassungsschutzberichte kommt einem Eingriff in das Kommunikationsgrundrecht gleich.« Die Karlsruher Richter verpflichteten die Verfassungsschutzbehörde, bei der Prüfung, ob sich in einer Zeitungsäußerung eine verfassungs­feindliche Bestrebung manifestiere, »zu berücksichtigen, dass Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern«.

Nun muss sich zeigen, ob ein von rechts her erkämpfter höchstrichterlicher Beschluss, welcher der Presse sogar die Forderung erlaubt, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern, etwa auch zur Folge hat, dass linke, kapitalismuskritische Blätter über öko­nomische Hintergründe von Faschismus und Krieg aufklären dürfen, ohne künftig mit staatlichen Sanktionen belästigt zu werden. Die Erwähnung von Zeitungen in Verfassungsschutzberichten dürfte nach dem Karlsruher Richterspruch kaum mehr statthaft sein. Erst recht dürfte sich ein Zeitungsverbot, wie es Minister Schily am 4. September 2005 gegen die seit 1994 in Deutschland herausgegebene türkischsprachige Tages­zeitung Özgür Politika verhängte und erst nach starken Pro-testen aufhob, nicht wiederholen.

 

aus: Grundrechte-Report 2006 , S.163-167

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