Einleitende Bemerkungen zum „Verfassungsschutz“

Was seit November 2011 über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und die von ihm begangenen Morde bekannt geworden ist, brachte das Vertrauen von Politik und öffentlicher Meinung in die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden ins Wanken – zumindest für einen kurzen Augenblick. So unfassbar waren die Pannen und Fehler, die Ignoranz und ideologischen Scheuklappen von Polizei, „Verfassungsschutz“ und anderer Geheimdienste, dass die Chance für einen kompletten Neuanfang realistisch schien. Selbst in Zeitungen, die revolutionärer Neigungen unverdächtig sind (FAZ, SZ, Die Zeit, Berliner Zeitung) erschienen Beiträge, die das Ende der Verfassungsschutzbehörden verkündeten oder jedenfalls für erwägenswert hielten.

Diese Umbruchstimmung hielt jedoch nur kurze Zeit an. Während sich der vom Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschuss1 noch um die Aufklärung und Analyse der Versäumnisse bemühte (sein Abschlussbericht wird für Juni 2013 erwartet), begann die Politik bereits mit dem von ihr verkündeten „Neustart“. Er beschränkt sich beim überwiegenden Teil der politischen Parteien2 jedoch auf einen bloßen Pannendienst. So verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zum stärkeren Informationsaustausch zwischen den „Diensten“3, vom Innenminister wurde ein neues Kooperationszentrum geschaffen.4 Daneben stehen Forderungen nach mehr Geld für den Sicherheitsbereich, Veränderungen in der Organisationsstruktur der Sicherheitsdienste, nach einer Zentralisierung der Verfassungsschutzbehörden, nach neuen Registern und vermehrtem Personalaustausch zur Diskussion.5 Als Beigabe werden intensivere parlamentarische Kontrollen der Geheimdienste in Aussicht gestellt. Die Existenz eines geheimdienstlichen Verfassungsschutzes wurde dagegen nicht mehr in Frage gestellt, die Forderung nach seiner Abschaffung verschwand weitgehend von der politischen Bühne.

Die eine oder andere vorgeschlagene Maßnahme mag gut gemeint sein. Alle Reformvorschläge werden jedoch nicht dem Problem gerecht, das geheim arbeitende Behörden für ein demokratisches und rechtsstaatliches Gemeinwesen aufwerfen; ja sie verstärken wie im Falle weiterer Zentralisierung noch deren fatale Wirkungsweise.

Statt Pannendienst: Frage nach der Notwendigkeit von Geheimdiensten

Vielmehr muss endlich von Grund auf die Frage gestellt werden, ob die Konzeption staatlicher Sicherheitswahrnehmung6 überhaupt noch stimmt, sofern sie überhaupt jemals gestimmt hat: Sind die bestehenden staatlichen Einrichtungen zur Sicherheitsvorsorge und Gefahrenabwehr alle erforderlich? Vor allem aber: Sind sie auch einer Gesellschaft angemessen, die sich in ihrer Verfassung zu den unveräußerlichen Grundrechten und Grundfreiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger bekennt?

Unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben, unsere Wirtschaft und unsere Kultur gründen sich auf Grund- und Freiheitsrechten, die von Staats wegen zu gewährleisten sind. Täglich einzulösende Aufgabe des Staates ist es, die materiellen, organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger von ihren Freiheitsrechten auch Gebrauch machen können.

Hierzu gehört auch die Sorge für die äußere und die innere Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Die Einrichtungen des Staates müssen geeignet und erforderlich sein, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Freiheit und ihr Eigentum nach Möglichkeit zu schützen. Dabei darf der Staat – und das ist die Lehre aus der jüngsten Geschichte, namentlich aus der Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland – die Freiheitsrechte seiner Bürger und Bürgerinnen nicht unter Berufung auf staatliche Sicherheitsinteressen einschränken. Staatliche Sicherheitspolitik hat die grundrechtlich zuerkannten Freiheitsrechte zu achten und schützen. Dazu gehören namentlich die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit als Recht auf die kollektive Geltendmachung von Grundrechten. Qualität, Richtigkeit, intellektuelles oder moralisches Niveau von Haltungen und Meinungen jeder Art unterliegen gerade nicht staatlicher Opportunität. Das gilt für dem ‚Mainstream‘ entsprechende Meinungen genauso wie für solche Meinungen, die radikale Positionen zur Geltung bringen. Die Grenzen der Grundrechtsausübung ergeben sich aus der Verfassung, genauer: aus den Artikeln 18 und 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, und aus den kollidierenden Grundrechten Dritter, der Menschenwürde, der körperlichen Integrität, und nicht zuletzt aus dem Strafrecht, das diese Grenzen nachzeichnet.

Solange und soweit sich die Ausübung von Grundrechten, insbesondere die Meinungs(äußerungs)freiheit innerhalb der genannten Grenzen bewegt, kann es nicht staatliche Aufgabe sein, die Bürgerinnen und Bürger zu beobachten, zu registrieren, zu stigmatisieren, zu verfolgen, zu diskreditieren oder zu zensieren und auszugrenzen. Genau dies ist aber unter Anwendung des ideologiebeladenen und daher missbrauchsgeneigten Kampfbegriffs der „streitbaren Demokratie“ seit langem der Fall; in zunehmendem Maße und mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach Maßgabe wechselnder politischer Opportunität. Es sind vor allem die verschiedenen Geheimdienste, namentlich die 17 Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, die den politischen Diskurs der Bundesrepublik überwachen – nachzulesen in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten und ausweislich ihrer Skandalgeschichte.
Bedarf es vor diesem Hintergrund zur Sicherheitswahrnehmung „nach innen” neben der Polizei und speziellen Gefahrenabwehrbehörden (z. B. Bauaufsicht, Brandschutz oder Lebensmittelsicherheit, Verkehrsbehörden) auch noch geheimdienstlich arbeitender Verfassungsschutzbehörden?

Gesellschaftliche Vergesslichkeit als Bedingung des Weiterbestehens des „Verfassungsschutzes“

Die Frage nach Notwendigkeit, Entbehrlichkeit oder Schädlichkeit des Verfassungsschutzes treibt die Humanistische Union, aber auch andere Bürger- und Menschenrechtsorganisationen schon lange um. Die hier vorgelegte Broschüre ist die dritte in einer Folge von Veröffentlichungen der Humanistischen Union zum Thema Verfassungsschutz:

  • Das Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes von 1981 unter dem Titel „Die (un)heimliche Staatsgewalt“ forderte im Kern noch nicht die Abschaffung, sondern eine konsequent rechtsstaatliche Gestaltung, Begrenzung und Kontrolle des Verfassungsschutzes.
  • Die Enzyklika für die Bürgerfreiheit von 1991 mit dem Titel „Weg mit dem ‚Verfassungsschutz’ – der (un)heimlichen Staatsgewalt“ stellte bereits die jetzt wiederholte Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes auf.

Die Herausgeber dieses Memorandums geben die Hoffnung nicht auf, mit den hier versammelten, bürgerrechtlich begründeten Mahnungen den Lauf der politischen Entscheidungen beeinflussen zu können, also die Abschaffung des Verfassungsschutzes zu erwirken. Der Rückblick in die bundesdeutsche Geschichte der Geheimdienste zeigt, dass eine Bedingung ihrer Fortexistenz im Vergessen besteht, dem permanenten gesellschaftlichen Vergessen der vielen Skandale und Anmaßungen der Geheimdienste. Dem wollen wir mit dieser Broschüre vorbeugen. Wir können heute nicht mehr darauf vertrauen, dass die fortwährenden Skandale im Sicherheitsbereich unsere unter Mühen erreichten demokratischen Strukturen unbeschadet lassen. Wir wollen, wie auch andere Akteure7, das Bewusstsein dafür wach halten, wie fragwürdig die Konstruktion eines staatlich administrativen „Verfassungsschutzes“ ist, der selbst zu dem Problem geworden ist, das er zu lösen vorgibt.

Unsere Schrift beschränkt sich auf die Ämter bzw. Behörden für Verfassungsschutz in Bund und Ländern. Unsere Kritik und Sorge gilt in gleicher Weise den weiteren Geheimdiensten unseres Landes, namentlich dem Militärischen Abschirmdienst, den abzuschaffen ja bereits in der etablierten Politik diskutiert wird, und dem Bundesnachrichtendienst (BND), der als Auslandsgeheimdienst weitgehend rechtsfrei agiert.

Demokratie, wenn sie mehr sein will als eine periodische Schönwetter-Demokratie, muss sich gegen die Zumutungen solcher Art autoritärer Zuteilung von bürgerlichen Freiheiten wehren. Es gibt sie, die alternativen Lösungen. Sie liegen allein im lebendigen demokratischen gesellschaftlichen Diskurs, den es auszuhalten gilt.

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