Die Rechtfertigung für die Existenz von Verfassungsschutzbehörden wird häufig darin gesehen, dass diese eine Frühwarnfunktion für den Staat hätten gegen „Extremisten“, gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen. So hat es Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU) jüngst wieder im Bundesverfassungsschutzbericht 2011 ausgeführt, der im Sommer 2012 vorgestellt wurde. Das Grundgesetz wolle eine „wehrhafte“ Demokratie sein, wie sich in den Artikeln 9, 18 und 21 zeige. Die Feinde der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ können demnach ihre Grundrechte verwirken, ihre Vereine und Parteien können verboten werden. Da die Polizei nur bei drohenden Gefahren und Straftaten einschreiten dürfe, benötige der Staat weit im Vorfeld ein Frühwarnsystem zur Beobachtung von „Extremismus“ und verfassungsfeindlichen Bestrebungen, um frühzeitig gewappnet zu sein und die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ verteidigen zu können.
Was stimmt an dieser Argumentation?
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach den Artikeln 5 und 8 des Grundgesetzes konstitutiv für die Demokratie, denn diese lebt vom Meinungskampf, sei es politisch, sei es kulturell oder gesellschaftlich. Jede Meinung ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt. Das beinhaltet auch die öffentliche, gemeinsame Kundgabe dieser Meinung nach Artikel 8 Grundgesetz (Versammlungsfreiheit). Und die Meinungsfreiheit gilt auch für dumme, schändliche oder „falsche“ Meinungen. Die Grenze zieht hier das parlamentarisch beschlossene Strafgesetz insbesondere in den Vorschriften, die den Schutz vor persönlicher Beleidigung (§§ 185ff StGB) und herabwürdigenden Äußerungen gegenüber ganzen Gruppen (Volksverhetzung – § 130 StGB) zum Inhalt haben. In welchen Fällen und in welcher Weise diese Grenzen gezogen werden, das obliegt dem selbst wieder der öffentlichen Kontrolle unterworfenen Strafprozess. Denn wer wollte entscheiden, welche Meinung jenseits ihrer strafrechtlichen Missbilligung richtig oder falsch ist, welche in den gesellschaftlichen und politischen Mainstream fällt, welche radikal oder extrem, welche nützlich ist? Diese Entscheidung könnte nur die Mehrheit treffen, und das wäre eine Beeinträchtigung der Minderheit.
Die Demokratie beruht nicht zuletzt darauf, dass eine Mehrheit zur Minderheit, eine Minderheit zur Mehrheit werden kann. Deshalb genießen gerade Minderheiten einen besonderen grundrechtlichen Schutz. Dieses demokratische System kann nur solange funktionieren, wie diese Minderheiten – auch radikale – uneingeschränkt ihre Meinung vertreten können. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf man auch – ohne verfassungswidrig zu sein oder als verfassungsfeindlich zu gelten – Grundrechte abschaffen oder einschränken wollen, solange dies auf verfassungskonformem Weg in den verfassungsrechtlichen Grenzen geschieht, ja selbst weiteste Teile des Grundgesetzes, mit Ausnahme des durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 79 Abs. 3 geschützten rudimentären Kernbestandes, darf man ersetzen wollen durch eine neue Verfassung. In seiner Entscheidung vom 24. Mai 2005 hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, „dass Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“ (Ziffer 72). All dies ist zulässig. Es besteht kein Anlass, dass der Staat bzw. die Regierung(en) durch die Verfassungsschutzbehörden zum Akteur im politischen Meinungskampf werden und gegen als misshellig empfundene Auffassungen durch ein „Frühwarnsystem“ vorgehen. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern Ergebnis der demokratischen, verfassungsmäßig zustande gekommenen Mehrheit.
Das Bundesverfassungsgericht 2010: „Extremismus“ ist ein politischer Kampfbegriff!
Und was heißt schon „extremistisch“ als Ausdruck für verfassungswidrige oder verfassungsfeindliche Bewegungen oder Organisationen, gegen die der Staat eines Frühwarnsystems zu seiner Verteidigung bedürfte? Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2010 festgestellt, dass „Extremismus“ nichts anderes ist als ein politischer Kampfbegriff, der jeweils von der Mehrheit geprägt und interpretiert und gegen die Minderheit verwendet wird. Es ist kein definierbarer und fassbarer Rechtsbegriff, an den staatliche Aufgaben oder Befugnisse anknüpfen dürften.
Der Fall: Im Rahmen der Führungsaufsicht nach §§ 68 ff. StGB war einem Verurteilten nach Verbüßung seiner Strafe verboten worden, „rechtsextremistisches oder nationalsozialistisches Gedankengut publizistisch zu verbreiten, insbesondere durch Veröffentlichungen …“. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts war zu befürchten, dass der Verurteilte „seine extremistischen, antijüdischen und antiamerikanischen Parolen verbreiten werde, indem er Beiträge für rechtsextremistische Zeitungen verfasse.“ Sind antisemitische oder antiamerikanische Äußerungen verfassungswidrig? Sind antiislamische oder antirussische Äußerungen verfassungswidrig? Dürfen sie verboten werden? Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht dieses Verbot aufgehoben, denn auch solche Meinungen sind durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt (Ziffer 11 des Beschlusses). Und das Bundesverfassungsgericht fährt in Ziffer 20 seiner Entscheidung fort:
„Es fehlt dem Verbot der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts an bestimmten Konturen. Ob eine Position als rechtsextremistisch – möglicherweise in Abgrenzung zu rechtsradikal oder rechtsreaktionär – einzustufen ist, ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ihre Beantwortung steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen, die Abgrenzungen mit strafrechtlicher Bedeutung, welche in rechtsstaatlicher Distanz aus sich heraus bestimmbar sind, nicht hinreichend erlauben. Die Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ist damit kein hinreichend bestimmtes Kriterium, mit dem einem Bürger die Verbreitung bestimmter Meinungen verboten werden kann.”
Wenn „extremistische Auffassungen” weder strafbar sind noch verboten werden können, dann hat der Staat insoweit auch nicht (und schon gar nicht durch Geheimdienste) irgend etwas zu beobachten und zu sammeln – er dürfte ohnehin keine Konsequenzen daraus ziehen. Es darf in einem demokratischen Staat nicht sein, dass die jeweilige Mehrheit, sei sie parteilich oder sonst wie begründet, unter „sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen” bestimmen kann, was als „extremistisch“ und damit verfassungswidrig oder verfassungsfeindlich aus dem herrschenden Diskurs ausgeschlossen und gesellschaftlich sanktioniert wird.
Mit einem Frühwarnsystem hat dies nichts zu tun. Tatsächlich ist der „Verfassungsschutz“ zu keinem Zeitpunkt ein Frühwarnsystem gewesen. Über angeblich verfassungsfeindliche Bestrebungen haben immer zunächst die Wissenschaft oder die Medien berichtet, und erst anschließend wurden derartige Bestrebungen zum Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Verfassungsschutzbehörden offensichtlich von Entwicklungen überrascht wurden, die sie hätten erkennen sollen. Bereits im Jahr 2002 gab es – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – Hinweise auf den NSU in der NS-Postille „Weißer Wolf“. Dies fand weder damals noch später Aufmerksamkeit beim „Verfassungsschutz“. Bis zu den ersten Medienberichten im Januar 2013 bemerkten die Verfassungsschutzbehörden auch nichts von den Aktivitäten der Hammerskins, einer „arischen“ Rassenbruderschaft im mecklenburgischen Grevesmühlen – von „Frühwarnsystem“ keine Spur. Und im häufig kolportierten Fall der Sauerland-Bande kam der Hinweis auf die Aktivitäten der islamistischen Dschihadisten nicht etwa vom „Verfassungsschutz“, sondern von einem ausländischen Geheimdienst.
Anders ist es auch kaum vorstellbar: Soweit die Behörden für Verfassungsschutz öffentliche Quellen auswerten (ca. 90 % ihrer „Erkenntnisse“ beruhen nach eigenen Angaben darauf), beziehen sie sich auf bereits vorhandene Medienberichte oder wissenschaftliche Untersuchungen über solche Organisationen und Strukturen, die zuvor veröffentlicht wurden. Die Verfassungsschutzbehörden sind somit zwangsläufig Nachläufer und nicht Vorläufer, also auch kein Frühwarnsystem. Auch ihre nachrichtendienstlichen Mittel zur weiteren Informationsgewinnung können die Verfassungsschutzbehörden erst dann einsetzen, wenn sie aufgrund öffentlicher Quellen einen Verdacht auf möglicherweise verfassungsfeindliche Bestrebungen gefasst haben. Das wirkliche Frühwarnsystem sind also die Öffentlichkeit, sind die Medien, die Wissenschaft, und wie im Fall neonazistischer Aktivitäten nicht zuletzt zivilgesellschaftliche Gruppen und Projekte.
Darüber hinaus: Was soll denn „Frühwarnsystem“ bedeuten? Einmal unterstellt, die Verfassungsschutzbehörden würden eine angeblich verfassungsfeindliche Organisation aufspüren, beobachten und darüber berichten: Was sollte denn die Bundes- (oder Landes-) Regierung aufgrund dieser Frühwarnung veranlassen? Gar nichts. Solange sich diese Organisation rechtmäßig verhält, nicht zu Straf- und Gewalttaten aufruft, kann eine Regierung – glücklicherweise! – auch gar nichts veranlassen. Bürgerinnen und Bürger oder Organisationen, die sich rechtstreu verhalten, gehen den Staat nichts an. Er hat deshalb nichts zu veranlassen. Und dort, wo es um sicherheitsgefährdende oder strafbare Handlungen geht, sind Polizei und Justiz zuständig.
Eines staatlichen „Frühwarnsystems“ bedarf es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht.