Am 26.09.1980 explodiert um 22:19 Uhr am Hauptausgang des Münchner Oktoberfestes eine Bombe und reißt 13 Menschen in den Tod und verletzt 211 weitere Wiesnbesucher zum Teil schwer. Gemäß dem Denken der Sicherheitsbehörden und den Interessen der bayerischen Politik konnte dieser bis heute schwerste Anschlag in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur von Linksterroristen ausgeführt worden sein. Noch bevor Ermittlungen überhaupt beginnen, weiß der bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß (CSU) wenige Stunden nach dem Attentat zu vermelden, dass die Täter im linken politischen Spektrum zu suchen und zu finden seien. Er weiß auch, dass diese Tat durch die in den Augen der CSU viel zu laxe Sicherheitspolitik des liberalen Bundesinnenministers Gerhart Baum (FDP) begünstigt worden ist. 1980 ist Wahlkampf und Strauß ist der Kanzlerkandidat der Union.
Schon am Morgen nach dem Attentat liegt der Sonderkommission (Soko) „Theresienwiese“ jedoch die Information vor, dass einer der Attentäter beim Zünden der Bombe selber ums Leben gekommen ist. Man weiß zu diesem Zeitpunkt auch, dass es sich dabei um Gundolf Köhler handelt und dass dieser Kontakte in die Neonazi-Szene sowie zur Wehrsportgruppe Hoffmann hatte. Genau diese paramilitärische Vereinigung von rechten Waffennarren, Alt- und Neonazis hatte im Freistaat Bayern ihr Hauptquartier. Über Jahre hinweg von Franz Josef Strauß und dem bayrischen Innenminister verharmlost, wird sie schließlich Anfang 1980 von Gerhart Baum verboten.

Gundolf Köhler – ein Einzeltäter? Das Bild zeigt ihn mehrere Jahre jünger als zur Tatzeit. Bild: 3sat-Reportage
Einzeltäter oder Mittäter – die Ermittler hatten bereits kurz nach dem Beginn der Ermittlungen viele Hinweise: Mehrere Zeugen versichern glaubhaft, Köhler am Tag vor und am Abend des Attentats in Begleitung mehrerer Männer gesehen zu haben. Detailliert schildert der Zeuge Frank Lauterjung, er habe Köhler 45 Minuten vor der Explosion in einem hektischen, intensiven Gespräch mit zwei jungen Männern in Parkas beobachtet und ihn noch unmittelbar vor der Zündung der Bombe gesehen. Nach mehreren Vernehmungen von Lauterjung ist den Mitgliedern der Sonderkommission klar, dass dies ihr Hauptzeuge ist.
Doch schon wenige Wochen nach dem Attentat erfahren die Ermittlungen eine andere Stoßrichtung. Es wird nicht mehr nach Mittätern gefahndet, sondern stattdessen die Einzeltäterthese aufgebaut (Quelle: www.sueddeutsche.de/1.1983189). Gundolf Köhler hat danach das Attentat alleine geplant, den militärischen Sprengstoff unbemerkt besorgt und – ohne Spuren vom Sprengstoff zu hinterlassen – die Bombe ganz ohne fremde Hilfe gebaut und nach München gebracht, um sie dort zu zünden. Sein Motiv sei eine Mischung aus Frustration über Fehlschläge bei Frauen und im Studium gewesen. Mit dieser Begründung stellen 1981 zuerst die bayrische Soko „Theresienwiese“ und ein Jahr später die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen ein. Die Aussagen von Frank Lauterjung werden umgedeutet und das beobachtete hektische Gespräch, das laut dem Zeugen über eine Viertelstunde ging, wird zu einer belanglosen Unterhaltung unter Unbekannten herunter gestuft.
Frank Lauterjung erklärte seine detaillierte Beobachtung des Gundolf Köhler über fast eine Stunde damit, dass er sich als homosexueller Mann von dem jungen Studenten angezogen fühlte. Eine andere Begründung für die genauen Zeugenangaben des ehemaligen Hauptzeugen zeigt ein Artikel des „Spiegel“ im September 2010 auf: Tatsächlich war Lauterjung bis 1965 nicht nur NPD-Mitglied, sondern auch zweiter Bundesführer und Standortführer des „Bundes Heimattreuer Jugend (BHJ)“, einer Gruppierung mit völkischen und extrem rechten Positionen. Aus der Vereinigung wird er 1965 ausgeschlossen, da man ihn für einen Spitzel und Provokateur des Verfassungsschutzes hält. Kurz darauf tritt er aus der NPD aus und dem Sozialistischen Studentenbund (SDS) bei. Der „Spiegel“ fragt, ob Lauterjung wirklich zufällig an diesem tragischen Abend in München Gundolf Köhler beobachtetoder vielleicht einen Beobachtungsauftrag vom Verfassungsschutz oder einer anderen Sicherheitsbehörde hat. Frank Lauterjung kann man dazu leider nicht mehr persönlich befragen. Er stirbt 1982 im Alter von 38 Jahren an einem „Herzfehler“ – keine zwei Jahre nach dem Attentat. Sein Bruder schilderte, dass er vor dem Attentat ein gesunder Mann gewesen sei und dass er seit dem Attentat unter Angstzuständen litt. Frank Lauterjung fürchtete „irgendwo dazwischenzukommen“, so sein Bruder (Quelle: „Oktoberfest – Das Attentat Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann“, Ch. Links Verlag von U. Chaussy).
In den 2014 vom bayrischen Innenministerium freigegebenen Spurenakten findet sich ein Hinweis auf eine weitere mögliche Verstrickung eines V-Mannes des Verfassungsschutzes in das Attentat. Bereits am 27. September 1980, also am Tag nach dem Attentat, geben die damals in Untersuchungshaft sitzenden Rechtsterroristen der „Deutschen Aktionsgruppen“ den Ermittlern der Soko „Theresienwiese“ einen heißen Tipp zu der möglichen Herkunft des verwendeten Sprengstoffes. Der Neonazi Heinz Lembke, NPD-Mitglied aus dem Umkreis des BHJ und ebenfalls mit Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann, hat den „Deutschen Aktionsgruppen“ Waffen und Sprengstoff angeboten. Eine Hausdurchsuchung am darauf folgenden Tag bleibt allerdings ergebnislos. Die Spur zu Lembke ist äußerst brisant:
- Am 29. September 1980 schreibt das Kriminalkommissariat Uelzen, das die Ermittlungen gegen Lembke führt, an die Ermittler der Soko in München, mögliche „Erkenntnisse sind nur zum Teil gerichtsverwertbar“. Für Opferanwalt Dietrich deutet diese Formulierung darauf hin, dass Lembke ein V-Mann des Verfassungsschutzes war (http://www.sueddeutsche.de/1.1983189).
- Durch Zufall wird bei Forstarbeiten ein Jahr später in der Nähe des Grundstücks von Lembke ein Erddepot mit Waffen gefunden. Diesmal wird Lembke verhaftet und zwei Tage später führt er die Ermittler tatsächlich zu 31 weiteren Depots. Dabei werden genug Waffen, Munition, Sprengstoff und Granaten gefunden, um eine ganze Kompanie auszurüsten.
- In einer der gefundenen Waffenkisten wird ein Fingerabdruck auf einem Dokument entdeckt, der Peter Naumann zugeordnet werden kann. Naumann ist NPD-Mitglied, hat ebenfalls Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann und ist bereits durch Sprengstoffattentate in Erscheinung getreten.
- Der Hinweis auf Lembke als potentiellen Sprengstofflieferanten findet sich weder in dem Abschlussbericht der Soko „Theresienwiese“ noch in dem Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft wieder.
Die Bundestagsfraktion der der „Grünen/Bündnis 90″ hat im Oktober 2014 diese Hinweise in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung aufgegriffen (Bundesdrucksache 18/3117, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/031/1803117.pdf). Zur Frage, ob Frank Lauterjung je dem Verfassungsschutz als Quelle gedient hat oder ob er an dem Abend des Attentats einen Beobachtungsauftrag irgendeiner Sicherheitsbehörde hatte, antwortet die Bundesregierung relativ konkret:
„Abgesehen von dem Umstand, dass der Zeuge in der NPD und dem SDS aktiv war, liegen dem Generalbundesanwalt zu den in der Fragestellung enthaltenen Tatsachenbehauptungen keine Erkenntnisse vor.“
Anschließend verweist die Bundesregierung auf eine allgemeine Anfrage des Generalbundesanwalts aus dem Jahr 2011 an das Bundesamt und das bayrische Landesamt für Verfassungsschutz nach weiteren Erkenntnissen zum Oktoberfestattentat, die ohne konkrete neue Erkenntnisse blieb.
Die Frage, ob Lembke ein V-Mann einer Sicherheitsbehörde des Bundes oder des Landes war, blockt die Bundesregierung völlig ab:
„Der Informationsanspruch des Parlaments findet eine Grenze bei geheimhaltungsbedürftigen Informationen, deren Bekanntwerden das Wohl des Bundes oder eines Landes gefährden kann.“
Auch eine wahrheitsgemäße Verneinung dieser Frage ist der Regierung nicht möglich:
„Die Auskunft muss auch dann verweigert werden, wenn die betreffende Person kein V-Mann ist oder war oder der Vorgang zeitlich weit zurückliegt, da ansonsten in allen übrigen Fällen aus der Antwortverweigerung auf das Vorliegen eines V-Leute-Einsatzes geschlossen werden könnte.“
Eine Antwort auf diese Frage darf den Parlamentariern noch nicht mal als Verschlusssache gegeben werden:
„Aus der Abwägung der verfassungsrechtlich garantierten Informationsrechte des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten mit den negativen Folgen für die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste sowie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der Gefährdung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste sowie der V-Leute folgt, dass auch eine Beantwortung unter VS-Einstufung ausscheidet.“
Es stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung die Frage nach einer möglichen V-Mann Tätigkeit von Lauterjung beantwortet, während sie im Fall von Lembke eine Beantwortung mit dem Hinweis auf „die Gefährdung des Wohls des Bundes oder eines Landes“ kategorisch ausschließt. Die Vorgänge um beide Personen liegen 34 Jahre zurück und beide Personen sind seit 31 bzw. 32 Jahren tot. Was macht die Frage nach Frank Lauterjungs eventueller V-Mann Tätigkeit so anders, dass man sie dahingehend beantworten kann, dass dazu „dem Generalbundesanwalt“ keine Erkenntnisse vorliegen? Oder liegt vielleicht genau in dieser Antwort der Unterschied, dass über eine V-Mann Tätigkeit von Lauterjung tatsächlich keine Erkenntnisse vorliegen, über eine V-Mann Tätigkeit von Lembke hingegen schon.
Am 11. Dezember 2014 hat die Generalbundesanwaltschaft dem dritten Antrag von Anwalt Dietrich auf Wiederaufnahme der Ermittlungen stattgegeben. Nach der Berichterstattung über die Widersprüche in den freigegebenen Spurenakten und dem Film „Der blinde Fleck – Täter. Attentäter. Einzeltäter?“ haben sich neue Zeugen gemeldet, deren Informationen werthaltig genug sind, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu begründen. Man kann gespannt sein, ob in diesem Rahmen noch weitere Hinweise auf eine Verstrickung des Verfassungsschutzes oder eines anderen Geheimdienstes in das Attentat entdeckt werden.