Jürgen Seifert
Fünf Jahrzehnte Fehlentwicklung der Ämter für Verfassungsschutz
Die britischen Auswanderer nach Nordamerika lockte nicht nur die Weite dieses Kontinents. Sie waren Flüchtlinge, die in der Neuen Welt gegenüber den Kämpfen und Kriegen wegen Fragen der Religion, des Glaubens und der Gesinnung in ihrer Heimat jetzt ein Land suchten, in dem keine staatliche oder religiöse Instanz das Recht haben sollte, religiöses Verhalten oder auch nur das Äußern einer Meinung zu unterbinden oder zu bestrafen. Die in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte Religions- und Meinungsfreiheit, die jede Gesinnung toleriert, wurde zu einem Beispiel für die Bundesrepublik Deutschland: Neben die Garantie der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und neben die Freiheit des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4) und der Meinungsfreiheit (Art. 5) wurde in das Grundgesetz das Verbot der Benachteiligung der religiösen und politischen Anschauung (Art. 3 Abs. 3) aufgenommen.
Auch im Rahmen der verfassungsrechtlichen (Art. 87 GG) und gesetzlichen Grundlagen des Verfassungsschutzes gibt es keine Bestimmung, durch die Verfassungsschutzbehörden ermächtigt werden, diese Freiheitsgarantie einzuschränken. Die Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden ist eindeutig auf die «Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes» beschränkt. Gegenüber den frühen Warnungen, man könne Menschen auch in ein «Stacheldrahtverhau des Verdachtes » sperren, erklärte der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ritter von Lex, 1950 bei der Verabschiedung des Verfassungsschutzgesetzes: Der Verfassungsschutz «hat Nachrichten zu sammeln. Wenn bei diesem Sammeln von Unterlagen sich ergibt, dass irgendwo strafbare Tatbestände vorliegen», dann habe er diese Erkenntnisse weiterzugeben. Zugleich war klar, dass die Verfassungsschutzbehörden dem jeweils zuständigen Innenminister des Bundes die Unterlagen liefern sollten, um Vereinigungen, «die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten», nach Art. 9 Abs. 1 GG zu verbieten, oder die zuständigen Bundesorgane mit dem Material versehen sollten, das ausreicht, beim Bundesverfassungsgericht den Antrag zu stellen, eine politische Partei für verfassungswidrig zu erklären (Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG).
Das ist ein halbes Jahrhundert her und hat heute nur noch wenig mit der tatsächlichen Praxis der Verfassungsschutzbehörden zu tun. Im Klima des Kalten Krieges wurde aus den USA die übelste Praxis der McCarthy-Ära übernommen. Die Verfassungsschutzbehörden etablierten sich (ohne Rechtsgrundlage) zu einer Instanz, die sich für berechtigt hält, Gesinnungen zu überprüfen und Verrufserklärungen abzugeben.
Daran haben auch die Versuche einer Einschränkung durch die Entscheidung des BVerfG über dasVerbot der KPD am 17. August 1956 nichts geändert. Ausdrücklich unterschied das Gericht zwischen einer «verfassungsfeindlichen Zielsetzung» und einer «verfassungsfeindlichen Betätigung». Das Gericht hat ferner ausdrücklich festgestellt: «Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt.» Entscheidend sei vielmehr eine «verfassungsfeindliche Betätigung». Eine solche Betätigung müsse nachgewiesen werden als «eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung », und dieses Verhalten müsse «grundsätzlich und dauernd tendenziell auf die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sein (BVerfGE, Bd. 5, S. 85 ff.; insbesondere S. 141).
Diese Grundsätze wurden jedoch für die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden nie relevant. Nach dem Verbot von Parteien «rechts» und «links» genügte für das Beobachten und Registrieren einer Person allein die frühere Zugehörigkeit in einer verbotenen politischen Partei und eine neue politische Betätigung, die automatisch den Verdacht begründete, für eine verbotene «Nachfolgeorganisation» tätig zu sein. Aus dieser Phase stammen die Dateien der Verfassungsschutzbehörde über die bloße Mitgliedschaft in Organisationen. Jeder Kommunist oder Neonazi, der sich nicht ins Privatleben zurückzog, konnte damit individuell und ohne die Notwendigkeit einer Begründung zum Objekt der Observation und Registrierung werden. Das galt im gleichem Umfang für alle, die sich in Organisationen betätigten, die als Ersatzorganisationen angesehen wurden. Der BGH hatte durch eine faktisch alles zulassende Definition dafür jede Grenze beseitigt.
Gustav Heinemann hat als Justizminister wesentlich dazu beigetragen, die Rechtsgrundlagen dieser juristischen Praxis aufzuheben, aber die Verfassungsschutzbehörden blieben bei ihrer Praxis. Sie drangen darauf, dass Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder 1972 den «Radikalen-Beschluss» fassten, der später zu einem «Extremisten-Erlass» uminterpretiert wurde. Erneut mussten die Grundsätze des BVerfG zurücktreten, damit Bewerber von den Verfassungsschutzbehörden (über die bloße Zugehörigkeit zu «verfassungsfeindlichen» Organisationen hinaus) als Angehörige einer verfassungsfeindlichen Bestrebung und damit als ungeeignet für eine Einstellung in den öffentlichen Dienst eingestuft werden konnten. Verwaltungsgerichte, bis hin zum Bundesverwaltungsgericht, haben diese Praxis gerechtfertigt.
Die beiden Kriterien des BVerfG, «verfassungsfeindliche Zielsetzung» und «verfassungsfeindliche Betätigung», verschwanden damit nicht nur für die Beamten der Verfassungsschutzbehörden als Kriterien, sondern auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Diese Entwicklung wurde dadurch verstärkt, dass das BVerfG im Jahr 1975 zu der Feststellung kam, dass der im Rahmen der «Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministers des Innern publizierte Bericht <Verfassungsschutz ’73>» weder ein «administratives <Einschreiten> gegen die NPD » darstelle noch durch « die Veröffentlichung dieses Berichts eine Verfassungswidrigkeit der NPD rechtlich geltend gemacht» würde (BVerfGE, Bd. 40, S. 292). Bei der Einstufung als «Partei mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung und Betätigung» handele «es sich […] um Werturteile, die der Bundesminister des Innern in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen, und im Rahmen seiner daraus fließenden Zuständigkeit für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Gruppen und Aktivitäten abgegeben hat. An diese Werturteile sind keinerlei rechtliche Auswirkungen geknüpft.» (ebd. S. 293)
Da die in den Verfassungsschutzberichten genannten Organisationen, insbesondere die DKP, wie die NPD auch, eine Klage vor dem BVerfG scheuten, blieb diese fragwürdige Rechtskonstruktion bestehen. Was unter der «Verantwortung» der zuständigen Minister veröffentlicht wurde, war einer gerichtlichen Kontrolle entzogen. Damit wurde es möglich, dass die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien (« verfassungsfeindliche Zielsetzung» und «verfassungsfeindliche Betätigung» in einer «aktiv kämpferischen Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung») weitgehend auf eine «verfassungsfeindliche Zielsetzung» reduziert wurden, und zwar ausschließlich im Rahmen einer administrativen Abstimmung zwischen Bund und Ländern.
Das hat dazu beigetragen, dass viele Verfassungsschutzbehörden ihre Arbeit (außerhalb ihres gesetzlichen Auftrags) hauptsächlich in der «Bekämpfung» derjenigen sehen, die sie selbst als «Verfassungsfeinde» definieren. Weniger die «Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes» stand im Vordergrund, sondern die ideologische Bekämpfung und «Zersetzung». Dafür steht der Ausspruch eines früheren Leiters der nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbehörde: «Wir haben doch letztlich die <Republikaner> zur Strecke gebracht.»
Das Ausmaß dieser Abkehr von den gesetzlich zugewiesenen Aufgaben wurde deutlich, als die Bundesregierung 2000 aus politischen Gründen den Antrag auf ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei (NPD) prüfte. Weil das im GG vorgesehene Verfahren vor dem BVerfG zum Verbot einer Partei seit Jahrzehnten aus Gründen politischer Opportunität faktisch nicht praktiziert wurde, haben die Verfassungsschutzbehörden ihren spezifischen « staatsanwaltlichen» Auftrag verlernt. Sie waren jedenfalls nicht in der Lage, dem Bundesinnenminister unverzüglich die erforderlichen Unterlagen sowohl für eine «verfassungsfeindliche Zielsetzung» wie auch für eine «verfassungsfeindliche Betätigung» vorzulegen. Die Behörden benötigten Monate, bis das Material so durchgearbeitet war, dass es Aussicht dafür bot, vor dem BVerfG bestehen zu können.
Das Versagen der Ämter für Verfassungsschutz in einer Situation, in der sie wirklich gefragt waren, bestätigt das, was Kritiker der Verfassungsschutzberichte seit Jahrzehnten gesagt haben: Die Behörden haben sich – außerhalb ihres gesetzlichen Auftrags – in ideologischen Bekämpfungsstrategien verloren.
Feindbild Antifaschismus
Es war ein langer und schwieriger politischer Prozess, in dem die Bundesrepublik Abschied nahm von der vielen lieb gewordenen Formel, der Feind stehe «links». Seit über fünf Jahrzehnten gehörte das Bild zum vorherrschenden Selbstverständnis der Bundesrepublik und ihrer «Sicherheitsexperten», die neue Republik müsse sich in gleicher Weise nach «links» wie nach «rechts» verteidigen. So bedurfte 1951 der Antrag der Bundesregierung, die neonazistische «Sozialistische Reichspartei» (SRP) zu verbieten, als Ausgleich des zwei Tage später gestellten Antrags auf Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Nach «rechts» war zwar (schon mit Blick auf das Ausland) eine klare Frontstellung erforderlich. Doch der eigentliche Feind stand von nun an «links».
Das Bild vom Hauptfeind Kommunismus überlebte den Untergang der DDR. Noch in der unterschiedlichen Behandlung von «Skinheads» und «Punks» im letzten Jahrzehnt blieb diese Einstellung erhalten: Für viele Verfassungsschützer (und Polizisten) waren «Skinheads» hinzunehmen; die unorganisierten «Punks» dagegen erschienen ihnen als eine substanzielle Bedrohung.
Warum hat man in den Sicherheitsapparaten das Feindbild vom «linken Hauptfeind» vielfach nicht aufgegeben? Sachbearbeiter wollten verhindern, dass ihr Arbeitsbereich in seiner Bedeutung geschmälert wird. Sodann hat man Warnungen vor «rechten» Aktivitäten nie ganz ernst genommen und die Proteste von «linker» Seite dagegen stets mit dem Zusatz versehen, gegen «vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten» vorzugehen. Damit wurde zugleich versucht, ihnen die Legitimation abzusprechen. Schließlich leben auch innerhalb der Verfassungsschutzbehörden politische Grundeinstellungen des Kalten Krieges fort.
Für einige dieser Spezialisten wurde zum zentralen Problem: Wie ist zu verhindern, dass diejenigen, die seit Jahren vor einer neuen Zunahme des Rechtsextremismus als Antifaschisten gewarnt hatten, durch die neue politische Frontstellung gegen «rechts» legitimiert werden? Zudem hatte die heute kaum noch bestrittene Tatsache, dass einige Verfassungsschutzbehörden auf dem rechten Auge lange Zeit blind waren, dazu beigetragen, diejenigen Gruppierungen zu stärken, die ihre politische Position bereits in ihren Namen aufgenommen haben: «Antifa ». Es ist nicht zu leugnen, dass erst deren Aktivitäten (beispielsweise im Umkreis von Göttingen und durch die Aktionen gegen die «Wiking-Jugend» in Niedersachsen) staatliche Instanzen dazu gebracht haben, gegen « Gewalt von rechts » einzuschreiten.
Als ein wichtiger Versuch, mit diesem Problem fertig zu werden, ist eine Broschüre des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus dem Jahre 1992 anzusehen. Durch diesen Text wurde ein Satz des Wissenschaftlers Hans Helmut Knütter zum Orientierungspol gemacht: «Nachdem der <real existierende Sozialismus> zusammengebrochen und moralisch diskreditiert ist, bleibt seinen ehemaligen Anhängern der Kampf gegen den Rechtsextremismus als Daseinsraison und Rechtfertigung der politischen Existenz.» Alle diejenigen, die den Kampf gegen Rechtsextremismus als vordringlich ansahen, wurden so indirekt (oder potenziell) zu «Anhängern des real existierenden Sozialismus» gestempelt. Vermutlich hat kaum einer beim Verfassungsschutz überhaupt noch bemerkt, dass auf diese Weise der Gründungsakt, das heißt der Neuanfang der deutschen Demokratie nach 1945, infrage gestellt wurde.
Voraussetzung dafür, im Nachkriegsdeutschland als politische Partei zugelassen zu werden, war – nicht nur in der sowjetisch besetzten Zone – eine «antifaschistische» Grundhaltung. Noch heute ist Art. 139 GG ein Zeugnis des Versuchs einer « Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus » durch die Alliierten. Nicht nur SPD und KPD verbanden ihren grundsätzlichen «Antifaschismus» mit einer Kritik am Kapitalismus, auch Christdemokraten waren in diesem Sinn « antifaschistisch». So beginnt das «Ahlener Programm» der CDU aus dem Jahr 1947 mit dem Satz: « Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.» Ohne dieses Programm, das bei der Schaffung des Grundgesetzes noch galt, wäre die Sozialisierungsbestimmung (Art. 15 GG) nicht Bestandteil der Verfassung geworden. Gewiss, die kapitalistische Produktionsweise wird heute von einer überwiegenden Mehrheit nicht als ein Problem angesehen. Geblieben ist jedoch eine Verfassung, die nach wie vor durch Abgrenzung gegen die NS-Vergangenheit bestimmt ist und durch wirtschaftspolitische Neutralität.
Ob und in welchem Umfang das Grundgesetz und seine Geschichte Orientierungspol der Arbeit in der Berliner Verfassungsschutzbehörde ist, das kann hier dahingestellt bleiben. Problematisch ist jedoch das Weltbild dieser Behörde. Für einige Sachbearbeiter steht fest: Die «Autonomen» sind der eigentliche Verfassungsfeind. So meint eine Broschüre über die «Antifa» (s. Literaturverweis) nur noch, Gewissheit vermitteln zu müssen. Das führt zu dem tautologischen Satz: «<Antifaschismus>, in der von Linksextremisten instrumentalisierten Form, [hat] eine klare, gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung» (S. 16).
Wenn jemand behaupten würde, «Beten», in der von Extremisten «instrumentalisierten Form», habe eine klare, gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung, würde kaum ein Leser einen solchen Satz durchgehen lassen. Unerlässlich wäre der konkrete Nachweis darüber, wie und in welcher Weise diese «Instrumentalisierung» erfolgt. Bei dem Fremdwort « Antifaschismus» ist das anders. Möglicherweise haben die für die Broschüre Verantwortlichen doch gemerkt, dass die gemachte Aussage (selbst dann, wenn man sie «für politisch richtig» hält) angreifbar ist. So wurde versucht, den zentralen Satz durch einen vorangestellten, elf Seiten langen Text über «Antifaschismus» zu stützen. «Antifaschismus» wird dabei reduziert auf den Kampf von Kommunisten gegen den italienischen Faschismus (den Nationalsozialismus), auf Stalins Formel von der SPD als «Sozialfaschisten», auf die Volksfrontbündnisse gegen Hitler und den «Antifaschismus in der DDR». Dieser ideologische Schnellkurs erfüllt einen einzigen Zweck: Beim Leser soll der Eindruck erweckt werden, Antifaschismus stehe in der Tradition des Kommunismus und sei auch heute noch nur eine Sache von Kommunisten. Scheinbar wird ein Nachweis geliefert. Auf einem anderen Blatt steht, dass diese Darlegung die deutsche Nachkriegsgeschichte ausklammert und deshalb wissenschaftlich nicht haltbar ist.
Möglicherweise hat man sich in der Behörde doch noch daran erinnert, dass man verpflichtet ist, Nachweise dafür zu liefern, dass eine «verfassungsfeindliche Betätigung» vorliegt. So greift man zurück auf eine Broschüre des Bundesamtes über «Militante Autonome». Dort wird die «antifaschistische Selbsthilfe» der Autonomen problematisiert. Der Berliner Text übernimmt diesen Ansatz (S. 31). Doch eine neue Überschrift setzt einen anderen Akzent: «Angriffe auf Personen» (S. 40). Die «Autonomen» sind – das wird damit suggeriert – Terroristen. Dieses Material dient dann zur Unterfütterung der agitatorischen Schlussparole: «Für die autonome <Antifa> ist Antifaschismus lediglich ein Deckmantel für Gewalt» (S. 58). Um diese Parole geht es dem Verfasser, deshalb kommt sie dann auch in den Titel der Broschüre.
Damit scheint das Bild vom Hauptfeind «links» wieder perfekt zu sein. Aber ganz sicher ist sich der Verfasser offenbar noch immer nicht. So holt er aus zu einem großen Rundumschlag und nimmt noch weitere Zitate der « Autonomen» auf. Doch diese Sätze haben nichts, absolut nichts mit einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung zu tun. So wird zitiert: «Wir sind für ein antiautoritäres Schulsystem, in der Schüler nur das lernt, was er lernen will» (S. 24).
Hier wird deutlich: Der Berliner Verfassungsschutz will nicht aufklären, sondern das Feindbild «die Autonomen» aufbauen. Es geht nur noch um eine ideologische Aufrüstung von Polizei und Bevölkerung.
Erfreulich an solchen amtlichen Berichten ist, dass das eigene Motiv nicht verschwiegen wird: «Fatal wäre es », heißt es, «wenn militante <Antifas>, weil sie sich gegen <Rechts> richten, auf Sympathie stoßen und […] als legitime Bündnispartner im Kampf gegen Rechtsextremismus anerkannt werden würden» (S. 58). Zugleich muss noch einmal betont werden: «Antifaschismus hat sich zu einem ernsthaften Bedrohungsmoment für die innere Sicherheit entwickelt» (S. 58).
Eine Anmerkung am Rande: Wie wenig sicher sich die Autoren eines solchen Pamphlets sind, zeigt ihre Ablehnung, am 28. September 2000 auf einer Veranstaltung im «Haus der Demokratie und Menschenrechte » in Berlin über diesen Text zu diskutieren.
Jungdemokraten/Junge Linke im Verfassungsschutzbericht
20. Juli 1999: Die Waffen im Kosovo-Krieg schweigen seit einem Monat wieder. Die Bundeswehr hält es für richtig, an diesem Tag ein öffentliches Gelöbnis durchzuführen. Die Zeremonie nimmt ihren Anfang, da entkleidet sich eine kleine Gruppe jugendlicher Pazifisten und protestiert vor laufenden Kameras mit Sprüchen auf Regenschirmen gegen Krieg und gegen diese Feier. Die Jugendlichen lassen sich ohne Widerstand festnehmen – im Januar 2001 werden sie von einem Berliner Gericht freigesprochen.
Da viele von ihnen einer Organisation angehören, steht im Verfassungsschutzbericht 1999 der Satz: «Zu einem ständigen Partner von Linksextremisten in Aktionsbündnissen, aber auch bei militanten Störungen staatlicher Veranstaltungen haben sich die <Jungdemokraten/Junge Linke> entwickelt.» Im weiteren Text wird der Gruppe eine «sozialrevolutionär begründete Ablehnung der freiheitlichen Grundordnung» vorgeworfen, sie folge der «marxistischen Lehre» von «gesellschaftlichem Überbau» und «sozialökonomischer Basis»; schließlich habe die «Junge Linke Hannover » sich in einem Beitrag als « kommunistische Organisation» bezeichnet und auch geschrieben, es gehe ihr darum, «aufzuklären [!], um die Erkenntnis zu verbreiten [!], dass Staat und Kapital sich abschaffen lassen und abgeschafft werden müssen».
Keiner der Vorwürfe belegt eine verfassungsfeindliche Zielsetzung. Auch das Lesen von Marx, die Berufung auf Marx oder die Vorstellung «dass Staat und Kapital sich abschaffen lassen …» begründet keine solche Zuordnung. Es steht in der Bundesrepublik jedem zu, sich als «Sozialrevolutionär» oder «Kommunist» zu bezeichnen oder Staat oder Kapital infrage zu stellen. Ich will es mir ersparen, hier all die Mitglieder von Bundesregierungen aufzuzählen, die im Laufe ihres Lebens ähnliche Worte gebraucht haben.
Es wird zudem deutlich, dass von dem Verfassungsschutzbericht die relevanten Unterscheidungen zwischen Staat und Verfassung sowie zwischen politischer und sozialer Umwälzung verwischt werden. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes sollte (das belegt die Entstehungsgeschichte) lediglich dem Schutz von Verfassungsgrundsätzen dienen. Es sollte keinen «Staatsschutz» geben und keine Instanz, die über die Zulässigkeit gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen entscheidet. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich noch einmal die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes betont. Die Grundrechte garantieren, dass Bürgerinnen und Bürger dieses Landes Pazifisten sind und diese Grundhaltung auch öffentlich in der Form eines «Antimilitarismus» vertreten können.
Auch in der einzig relevanten Frage einer verfassungsfeindlichen Betätigung ist der Bericht nicht präzise. Erwähnt werden «Aktionsbündnisse mit Linksextremisten», «militante Störungen» einer staatlichen Veranstaltung, Besetzung eines Kreiswehrersatzamtes, ein örtliches Engagement im Rahmen der «Anti-EXPO-Arbeit», Aktionscamps und Beteiligung an «Kampagnen». Das bedeutet, die «Jungdemokraten/Junge Linke» machen von Art. 9 GG Gebrauch und verbinden das Demonstrationsrecht mit Aktionen des zivilen Ungehorsams. Diese Organisation verhält sich zwar kämpferisch (zuweilen auch aggressiv), aber der Verfassungsschutzbericht liefert keinen einzigen Hinweis darauf, dass ein solches Verhalten «tendenziell» und «dauernd» auf eine Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bzw. gegen die tragenden Prinzipien dieser Grundordnung gerichtet ist.
Unberücksichtigt bleibt auch die Frage, ob die Äußerung der «Jungen Linken Hannover» dem Gesamtverband zugerechnet werden kann, zumal sich die Bundesorganisation inzwischen von dem umstrittenen Text distanziert hat. Ich habe in dem Hannoveraner Szene-Organ «RAZZ» die Vorgeschichte überprüft und den gesamten Text gelesen. Der Schreibstil unterscheidet sich von üblichen Pamphleten. Hier ist theoretische Weiterbildung gefragt, nicht aber eine Verrufserklärung des Verfassungsschutzes. Ich habe Verständnis dafür, dass junge Leute einfach dort schreiben, wo ihnen Platz zur Verfügung gestellt wird. Sie müssen nichts von den Kategorien einer «Kontaktschuld» wissen, die den Blickwinkel des Verfassungsschutzes blind machen.
Die Jungdemokraten, einst Jugendorganisation der FDP, machten 1982 den Schwenk von der sozial-liberalen Koalition zum Kanzler Helmut Kohl nicht mit und wurden von der damaligen Parteiführung der FDP weiter nach links gedrängt. Im Rahmen der deutschen Einheit vereinigten sie sich 1992 mit der im Osten beheimateten «Jungen Linken». Dass in einer solchen Organisation einige Personen mit der PDS sympathisieren (oder Mitglied sind), kann man sich vorstellen. Dazu braucht es keinen Verfassungsschutz. Die Organisation bekam Mittel aus dem Bundesjugendplan. Seit der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht stößt dies auf Schwierigkeiten.
Otto Schily, Bundesminister des Innern, hat – soweit bekannt geworden ist – bisher auf keinen Protestbrief geantwortet. Er hat nur seinen Staatssekretär Claus Henning Schapper um eine Antwort an Burkhard Hirsch, von dem eine der Stellungnahmen stammt, gebeten. In diesem Brief vom 12. September 2000 heißt es: «Mit Ihren Ausführungen sprechen Sie verschiedene Aspekte an, die die Frage der Grenzziehung zwischen radikalen politischen Meinungsäußerungen und Gefährdung von tragenden Prinzipien der Verfassungsordnung berühren. Der Bundesminister des Innern will sich die darauf zu gebende Antwort nicht leicht machen, was allerdings noch weitere Überlegungen und Gespräche erfordert.» Eine Antwort sollte bis Mitte Dezember 2000 erfolgen. Bei Redaktionsschluss dieses Textes lag eine solche noch immer nicht vor.
Deshalb ist es geboten, daran zu erinnern, dass es sich bei den Äußerungen in den Verfassungsschutzberichten nicht um Verwaltungsentscheidungen der beteiligten Instanzen handelte, sondern (siehe oben) um «Werturteile, die der Bundesminister des Innern im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen, […] abzugeben hat.» (BVerfGE, Bd. 40, S. 293)
Wenn Staatssekretär Schapper in seinem Schreiben an Burkhard Hirsch von weiteren «Uberlegungen und Gesprächen» spricht, die der Bundesminister in dieser Angelegenheit zu führen habe, und wenn der Bundesminister des Innern vier Monate danach noch immer schweigt und damit den Grundrechtsschutz der Betroffenen von der Abstimmung mit seinen Beamten und der Einigung bzw. den Absprachen der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder abhängig macht, dann heißt dies, dass Schily selbst nicht frei entscheidet, sondern sein «Werturteil» einem bürokratischen Einigungsprozess unterordnet. Für diese Deutung spricht auch, dass die Verfassungsschutzberichte von anderen Verwaltungsinstanzen nicht mehr als «Werturteil» angesehen werden, sondern (siehe die Entziehung staatlicher Förderungsmittel) als Aussage, die staatliche Sanktionen überhaupt erst bewirkt.
Das Zögern des Bundesministers des Innern macht deutlich, dass aus einem Werturteil inzwischen ein Verwaltungshandeln geworden ist. Deshalb muss es zulässig sein, vor Verwaltungsgerichten gegen solche Einstufungen zu klagen.
Nur auf diese Weise können die Ämter für Verfassungsschutz dazu gebracht werden, Grundrechte zu achten.
Der im März 2001 publizierte Verfassungsschutzbericht 2000 des Bundesinnenministers übrigens verzichtet auf die Erwähnung der Jungdemokraten/Junge Linke.
Literatur:
Bundesamt für Verfassungsschutz, Hg., Militante Autonome. Charakteristika, Strukturen, Aktionsfelder, Köln, Juli 1999.
Bundesministerium des Innern, Hg., Verfassungsschutzbericht 1999, Berlin 2000.
Landesamt für Verfassungsschutz [Berlin], Hg., «Antifa heißt Angriff. Antifaschismus als Deckmantel für Gewalt», in: Durchblicke, Jg. 6, Nr. 10, 1999.
Hans Helmut Knütter, Die Linke und der Rechtsextremismus, in: Bundesminister des Innern, Hg., Verfassungsschutz — Rechtsentwicklung — Bekämpfung des Extremismus, Bonn 1992, S. 78.
Grundrechte-Report 2001, S.218-231