Konträre Gesetzestexte im Vergleich: Niedersachsen und Thüringen
Es war im Jahre 1990: Bürgerrechtsvereinigungen und die GRÜNEN forderten die Auflösung der Verfassungsschutzbehörden in Westdeutschland; doch die Köln-Bonner Bürokratie und die Bonner Regierungsparteien produzierten ein Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), das die Volkszählungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Sinne des Bürgerschutzes produktiv umsetzte, sondern die Praxis einer Behörde festschrieb, die im Kalten Krieg, in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und der Zeit von Berufsverboten entwickelt worden war. Nicht die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts veränderten diese Praxis, sondern die Praxis inkorporierte die Maßstäbe.
Auch die Vorlage, mit der der Bundesrat am 22.6. 1990 den Vermittlungsausschuß anrief (BT-Drucksache 11/7504) blieb – trotz der Mehrheit sozialdemokratisch regierter Länder – auf dieser Ebene. Kritische Wissenschaft und Bürgerrechtsvereinigungen haben die damalige Chance nicht genutzt. Das BVerfSchG trat am 30. 12. 1990 in Kraft. Es hat auf der Ebene der Länder Landesverfassungsschutzgesetze beeinflußt. Fast lupenrein ist es im Thüringer Verfassungsschutzgesetz (ThürVSG) vom 29. 10. 1991 übernommen worden.
Das BVerfSchG hat die politischen Veränderungen im Ostblock und die damit aufgeworfene Frage einer Veränderung der Aufgabenstellung und der Funktion von Verfassungsschutzbehörden in einem neuvereinigten Deutschland nicht berücksichtigt. Die politischen Kräfte sind bisher dieser Frage ausgewichen.
In den neuen Bundesländern ist nur in Brandenburg bei der Diskussion des nach Bundesrecht erforderlichen Gesetzes diese Diskussion begonnen worden. Nur das Land Niedersachsen hat bisher für die erforderliche Novellierung des BVerfSchG durch einen eigenen Entwurf eine Vorreiterrolle übernommen.
In Niedersachsen hatten Grenzüberschreitungen der Verfassungsschutzbehörde („Celler Loch“) zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses geführt und dazu, daß Sozialdemokraten und GRÜNE in ihrer Koalitionsvereinbarung sich auf eine radikale Änderung des Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes (NVerfSchG) festlegten. Bedeutsam für den (nach mehrfachen Veränderungen) am 3. 12. 1991 vom Kabinett verabschiedeten Entwurf (Drucksache 12/2440) war nicht nur die Anhörung von Bürgerrechtsorganisationen und die Beteiligung kritischer Wissenschaftler an den Beratungen, sondern auch Vorlagen aus Schleswig-Holstein (LVerfSchG SH v. 23. 3. 1991), die Änderungen des Berliner Verfassungsschutzgesetzes vom 29.6. 1989 sowie § 16 des Berliner Datenschutzgesetzes (der auch für die Verfassungsschutzbehörde gilt) und das Vorschaltgesetz zum Gesetz über den Verfassungsschutz im Land Brandenburg (3. 12.1991 Gesetz).
Die Fortschritte, die mit dem niedersächsischen Entwurf erzielt werden konnten, sind für alle diejenigen, die keine Experten sind, nur schwer zu erkennen. Doch in der Gegenüberstellung zu dem Gesetzestext aus Thüringen werden die Unterschiede deutlich. Dadurch wird erkennbar, daß ein Gesetz, das eine bestehende Praxis zu verändern sucht, im Detail zur Kenntnis genommen werden muß. Es geht um Millimeterarbeit. – Ich beschränke mich auf exemplarische Punkte.
1. Mitwirkung bei der Einstellung in den Öffentlichen Dienst
Im bisherigen NVerfSchG war in § 3 Abs. 3 die Mitwirkung der Behörde bei der Einstellung von Bewerbern in den Öffentlichen Dienst festgelegt worden. Diese Bestimmung stammt aus dem von der Innenministerkonferenz 1972 vorgelegten „Musterentwurf“. Sie hatte in der Folgezeit (unter den Stichworten „Extremistenbeschluß“ und „Berufsverbote“) zu einer Vergiftung des politischen Klimas in der Bundesrepublik geführt. Thüringen hat diese Bestimmung übernommen; in Niedersachsen ist sie (wie in anderen Bundesländern) gestrichen worden.
§2 Abs. 5 ThürVSG
Das Landesamt für Verfassungsschutz erteilt, entsprechend den Rechtsvorschriften, auf Anfrage von Behörden, denen die Einstellung von Bewerbern in den öffentlichen Dienst obliegt, Auskunft aus vorhandenen Unterlagen über Erkenntnisse nach Absatz 1. Die Auskunft ist auf solche gerichtsverwertbaren Tatsachen zu beschränken, die Zweifel daran begründen können, daß der Bewerber jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird.
§3 Abs. 3 NVerfSchGE gestrichen
2. Kriterien für extremistische „Bestrebungen“
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Gruppierung, die lediglich ein gegen die Verfassung gerichtetes Ziel vertritt (etwa die Einführung einer Monarchie oder die Abtretung des Saarlandes aus dem Bundesgebiet) noch keine extremistische „Bestrebung“. Neben der Gesinnung ist ein besonderes Verhalten erforderlich; zu der „verfassungsfeindlichen Zielsetzung“ muß eine „verfassungsfeindliche Betätigung“ treten. Dafür hat das Gericht bestimmte Kriterien aufgestellt. Nur wenn der Verdacht besteht, daß solche Betätigung vorliegt, darf die Verfassungsschutzbehörde tätig werden.
In vergleichbarer Weise werden durch den niedersächsischen Gesetzentwurf die Begriffe „auswärtige Belange“ und „gewalttätige Bestrebungen“ definiert. In Thüringen (wie im BVerfSchG) fehlen derartige Begriffsbestimmungen.
§2 Abs. u. 3 ThürVSG ….
§4 Abs. 2, 3 u. 6 NVerfSchGE
(2) Eine nach Maßgabe des Absatzes 1 …htliche Bestrebung muß auf Gewaltanwendung gerichtet sein oder setzt ein aktiv kämpferisches, aggressives Verhalten gegenüber den in Absatz 5 genannten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung voraus .
(3) Auswärtige Belange im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 werden nur gefährdet , wenn innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes Gewalt ausgeübt oder durch Handlungen vorbereitet wird und diese sich gegen die politische Ordnung oder Einrichtungen anderer Staaten richten .
(6)Soweit dieses Gesetz das Vorliegen gewalttätiger Bestrebungen oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen voraussetzt, ist Gewalt die Anwendung körperlichen Zwanges gegen Personen oder eine dementsprechende Einwirkung auf Sachen .
3. Was sind „nachrichtendienstliche Mittel“?
Seit langem haben Bürgerrechtsorganisationen gefordert, die Verfassungsschutzbehörden dürften nicht selbst bestimmen können, welche Mittel sie einsetzen. In der Begründung zur Novelle des BVerfSchG 1972 wurde dazu gesagt, das sei „untunlich“. Da durch nachrichtendienstliche Mittel in die grundgesetzlich geschützten Freiheitsrechte des Bürgers eingegriffen wird, müssen solche Ein-griffe durch das Gesetz hinreichend bestimmt sein. In Niedersachsen wurde die Diskussion über diese Frage besonders heftig geführt, da das (der RAF in die Schuhe geschobene, aber von der Verfassungsschutzbehörde verantwortete) Sprengen eines Loches in die Celler Gefängnismauer als nachrichtendienstliches Mittel gerechtfertigt wurde.
Der niedersächsische Gesetzentwurf zeigt, daß eine solche Aufzählung möglich ist. Thüringen hat davon abgesehen. Das bedeutet, daß lediglich durch das Ändern einer internen Dienstvorschrift, der Umfang der zulässigen nachrichtendienstlichen Mittel ohne Zustimmung des Parlaments beliebig erweitert werden kann. So kann zum Beispiel die Informationsbeschaffung durch das heimliche Eindringen in Datenverarbeitungsanlagen, der Einsatz von Computerviren oder das Auffangen von Computer-Abstrahlungen zu einem zulässigen nachrichtendienstlichen Mittel werden. Solche und ähnliche Eingriffe beeinträchtigen in ihrer Schwere unter Umständen die Freiheitssphäre des Bürgers noch stärker als das Abhören eines Telefongespräches.
§6 Abs. 1 u. 2 ThürVSG
(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observation, Bild- und Tonaufzeichnung und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen, Informationen verdeckt erheben.
(2) Die nachrichtendienstlichen Mittel sind in einer vom Innenministerium zu erlassenen Dienstvorschrift zu benennen, die auch die Zuständigkeit für die Anordnung solcher Informationsbeschaffung regelt. Die Dienstvorschrift ist der Parlamentarischen Kontrollkommission zu übersenden.
§ 5 Abs. 2 NVerfSchGE
(2) Das Landesamt für Verfassungsschutz darf zur heimlichen Informationsbeschaffung als nachrichtendienstliche Mittel nur die folgenden Methoden und Instrumente anwenden sowie Personen und Gegenstände einsetzen:
1. Vertrauensleute, sonstige geheime Informanten, Gewährspersonen und verdeckt ermittelnde Beamtinnen und Beamte. Soweit sich Personen aus beruflichen Gründen auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen können, darf das Landesamt für Verfassungsschutz diese nicht von sich aus für seine Zwecke in Anspruch nehmen.
2. Observationen
3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, Videografieren und Filmen) außerhalb des Schutzbereichs von Artikel 13 Grundgesetz
4. Verdeckte Ermittlungen und Befragungen
5. Heimliches Mithören ohne Inanspruchnahme technischer Mittel
6. Heimliches Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel außerhalb des Schutzbereichs von Artikel 13 Grundgesetz
7. Beobachtung des Funkverkehrs auf nicht für den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen
8. Verwendung fingierter biographischer, beruflicher oder gewerblicher Angaben (Legenden)
9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen
10. Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs nach Maßgabe des Gesetzes zu Artikel 10 GG.
Die Zuständigkeit für die Anordnung und die Voraussetzungen für die Anwendung solcher nachrichtendienstlicher Mittel sind abschließend in Dienstvorschriften des Innenministeriums , das vorab den Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes unterrichtet, zu regeln.
4. Eingriffsschranke: Wohnung
Das ThürVSG sieht (ähnlich wie das BVerfSchG) vor, daß das in einer Wohnung „nicht öffentlich gesprochene Wort … mit technischen Mitteln … heimlich mitgehört oder aufgezeichnet werden“ darf und daß die Wohnung gegen einen „verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen“ nicht geschützt ist. Zwar dürfen diese Mittel nur unter bestimmten Voraussetzungen angewandt werden; doch die „gemeine Gefahr“ oder „gegenwärtige Lebensgefahr für einzelne Personen“ muß nicht in der observierten Wohnung drohen; d.h., wenn irgendwo das Leben einer Person bedroht ist, dürfen beliebig viele Wohnungen mit technischen Mitteln total überwacht werden, sofern sich darlegen läßt, dies sei zur Rettung „unerläßlich“ und „geeignete polizeiliche Hilfe“ könnte nicht rechtzeitig erlangt werden.
Der niedersächsische Entwurf bleibt bei der bisherigen Gesetzeslage, doch sollen solche Eingriffe ausdrücklich ausgeschlossen werden.
§ 7 Abs. 2 ThürVSG
Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen Mitteln nur heimlich mitgehört oder aufgezeichnet werden, wenn es im Einzelfall zur Abwehr einer, gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für einzelne Personen unerläßlich ist und geeignete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann . Satz 1 gilt entsprechend für einen verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen.
§ 5 Abs. 2 Nr. 3 u. 6 NVerfSchGE ( siehe unter 3 )
5. Eingriffsschranke: Kein Begehen von Straftaten
1976 hatte die FDP in Niedersachsen einen Vorschlag der Humanistischen Union aufgegriffen und durchgesetzt, daß in § 4 Abs. 1 Satz 2 NVerfSchG der Satz aufgenommen wurde: „Bei der Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel ist die Verfassungsschutzbehörde an die allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden.“ Durch geheimgehaltene Gesetzesinterpretationen der Verfassungsschutzbehörde wurde dieser Satz um seinen konkreten Inhalt gebracht. Das hat dazu geführt, daß unter der Verantwortung der Verfassungsschutzbehörde Straftaten begangen wurden. Der vorgelegte niedersächsische Entwurf trägt dieser Erfahrung Rechnung und versucht möglichst genau zu bestimmen, was ein Mitarbeiter der Behörde oder eine eingesetzte V-Person darf und was nicht. Die Formulierung zeigt, wie schwierig das ist.
In Thürigen gibt es keine entsprechende Bestimmung.
§ 5 Abs. 6 NVerfSchGE
(6) Das Landesamt für Verfassungsschutz ist an die allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden (Artikel 20 des Grundgesetzes). Bei der Inanspruchnahme nachrichtendienstlicher Mittel dürfen keine Straf-taten begangen werden. Tatbestandshandlungen sind zulässig, soweit es den Bereich der Organisationsdelikte, Urkundendelikte und Delikte des Vereins- und Versammlungsrechts betrifft und diese nicht auf die Gründung von Vereinigungen abzielen oder eine steuernde Einflußnahme zum Inhalt haben. Erlaubt sind nur solche Handlungen, die unter besonderer Beachtung des Übermaßverbots unumgänglich sind, um den Einsatz eines zulässigen nachrichtendienstlichen Mittels durchführen zu können.
6. G 10-gleiche Eingriffe
Die Entwicklung der Technik hat dazu geführt, daß neben den im Grundgesetz Artikel 10 (deshalb: „G 10″) zulässigen Eingriffen auch andere „Erhebungen“ vorgenommen werden können, „die in ihrer Art und Schwere einer Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gleichkommen“ oder darüber hinausgehen. Thüringen sieht (wie das BVertSchG) in solchen Fällen Verfahren vor, die in ihren Schutzwirkungen für Bürger nicht an die Sicherungen des G 10 Gesetzes herankommen. Niedersachsen will diese Sicherungen verbessern. Besonders wichtig ist, daß solche Maßnahmen der Zustimmung des Innenministers oder seines Vertreters bedürfen. Zugleich sollen diese Sicherungen auf den „Einsatz verdeckt ermittelnder Beamter“ und auf „längerfristige Observationen“ ausgedehnt werden. Bei der Unterrichtung des Ausschusses für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ist die gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission (so in Thüringen) völlig veränderte Struktur des Ausschusses erheblich (siehe unter 8).
§ 7 Abs. 3 ThürVSG
(3) Bei Erhebungen nach Absatz 2 und solchen nach Absatz 1, die in ihrer Art und Schwere einer Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gleichkommen, wozu insbesondere das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz technischer Mittel gehören, ist:
1. der Eingriff nach seiner Beendigung dem Betroffenen mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zweckes des Eingriffs ausgeschlossen werden kann und
2. die Parlamentarische Kontrollkommission unverzüglich zu unterrichten.
Einer Mitteilung gemäß Nummer 1 bedarf es nicht, wenn diese Voraussetzung auch nach fünf Jahren noch nicht eingetreten ist.
(…)
§6 Abs. 3 u. 4 NVerfSchGE
(3) Beim Einsatz verdeckt ermittelnder Beamtinnen oder Beamten, dem heimlichen Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel, der längerfristigen Observation oder bei sonstigen Erhebungen nach § 5 Abs. 2, die in ihrer Art und Schwere einer Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gleichkommen, bedarf der Eingriff der Zustimmung der Innenministerin oder des Innenministers selbst; im Falle der Verhinderung derjenigen der Vertreterin oder des Vertreters. Der Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ist in der jeweils nächsten Sitzung zu unterrichten. Die durch den Eingriff erhobenen Informationen dürfen nur nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz verwendet werden.
(4) Eingriffe gemäß Absatz 3 sind den betroffenen Personen nach ihrer Beendigung mitzuteilen, sobald dies ohne Gefährdung des Ermittlungszwecks geschehen kann. Der Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ist spätestens drei Jahre nach Beendigung der Eingriffe zu unterrichten, sofern eine Mitteilung an die Betroffenen nicht erfolgt ist. Einer Mitteilung an die betroffenen Personen bedarf es nicht, wenn die Voraussetzung auch nach zehn Jahren noch nicht eingetreten ist.
7. Auskunft an Betroffene
Thürigen hat in § 11 die Bestimmung des BVerfSchG sinngemäß übernommen. Wesentlich ist, daß derjenige, der Auskunft beantragt, sein besonderes Interesse darlegen muß. Die „Selbstbezichtigungsklausel“ des BVerfSchG (der Antragsteller muß dazu auf einen „konkreten Sachverhalt“ hinweisen) wurde allerdings nicht übernommen. In Niedersachsen wurden die Voraussetzungen, unter denen eine Auskunftserteilung unterbleiben kann, zu Gunsten der Bürger etwas eingeengt.
§ 11 Abs. 1 u. 2 ThürVSG
(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz erteilt dem Betroffenen über die zu seiner Person gespeicherten Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft, soweit er ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegt.
(2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit:
1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu besorgen ist;
2. durch die Auskunftserteilung nachrichtendienstliche Zugänge gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfassungsschutz zu befürchten ist;
3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder
4. die Daten oder die Tatsache der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheimgehalten werden müssen. Die Entscheidung trifft der Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz oder ein von ihm besonders beauftragter Mitarbeiter.
§ 12 Abs. 1 u. 2 NVerfSchGE
(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz erteilt Betroffenen über zu ihrer Person gespeicherte Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft. (…)
(2) Die Auskunftserteilung kann nur unterbleiben, soweit
1. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder
2. die Daten oder die Tatsache der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder wegen der überwiegenden berechtigten Interessen von Dritten geheimgehalten werden müssen,
3. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfassungsschutz zu befürchten ist.
(…)
In Niedersachsen wird bei den Ausschußberatungen auch darüber diskutiert, ob nicht auch Auskunft aus oder Einsichtnahme in Sachakten gewährt werden kann. Eine Schwierigkeit bereitet dabei die Tatsache, daß ohne Hinweise des Antragstellers personenbezogene Daten in Sachakten nicht aufgefunden werden können. Hier sollte eine gesetzliche Regelung so aussehen, daß die Hinweise („Selbstbezichtigung“) des Antragstellers im Regelfall durch eine Pflicht zur Auskunftserteilung bzw. Einsichtnahme aufgewogen werden müssen. In Anlehnung an § 16 Abs. 4 Berliner Datenschutzgesetz werden folgende Regelungen erwogen: „Sind personenbezogene Daten in Akten gespeichert, so kann der Betroffene bei der datenverarbeitenden Stelle Einsicht in Sachakten verlangen. An Stelle einer Einsichtnahme kann Auskunft aus den Akten gewährt werden“
Eine bloße Auskunft aus Sachakten kann zu einem großen Aufwand an Schreibarbeiten führen. In vielen Fällen spricht nichts dagegen, Einsicht in Sachakten zu gewähren. Eine solche Akteneinsicht ist auch politisch geboten. Sie ist vertretbar, wenn ihre Anwendung wie in Berlin durch eine Abwägungsklausel begrenzt wird. Diese könnte wie folgt aussehen: „Dies gilt nicht soweit eine Abwägung ergibt, daß die dort gewährten Rechte des Betroffenen hinter dem öffentlichen Interesse an der Geheimhaltung oder einem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse Dritter aus zwingenden Gründen zurücktreten müssen; die wesentlichen Gründe sind den Betroffenen im einzelnen mitzuteilen.“
Solche Praxis ist in Berlin möglich, doch in Niedersachsen sieht die Verfassungsschutzbehörde darin ein Ende ihrer Arbeit.
8. Parlamentarische Kontrollkommission oder Kontrolle durch einen Parlamentsausschuß?
Thürigen ist bei der Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrolle der Verfassungsschutzbehörde beim Bonner Beispiel geblieben. Unterrichtung der PKK und auch Akteneinsicht erfolgen „im Rahmen der politischen Verantwortung der Landesregierung“. Das bedeutet, daß die PKK keine Kontrollrechte hat, daß sie faktisch keine Kontrolle ausüben kann.
Niedersachsen lehnt sich demgegenüber an §5 des Berliner VerfSchG an. Es schafft Kontrollrechte: Auskunft, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde und Anhörung von Auskunftspersonen. Wichtig ist ferner, daß der Ausschuß diese Rechte ausüben muß, wenn ein Mitglied dies verlangt. Jede Fraktion soll im Ausschuß mindestens einen Sitz erhalten. Mitarbeiter der Behörde dürfen sich an den Ausschuß wenden. Unter besonderen Voraussetzungen kann Öffentlichkeit hergestellt werden.
§ 19 ThürVSG
(1) Die Landesregierung unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission mindestens viermal im Jahr umfassend über die allgemeine Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz und über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Sie berichtet zu konkreten Themen aus dem Aufgabenbereich des Landesamtes für Verfassungsschutz, sofern die Parlamentarische Kontrollkommission dies wünscht.
(2) Zeit, Art und Umfang der Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission werden unter Beachtung des notwendigen Schutzes des Nachrichtenzuganges und unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung und Aufgabenerfüllung im Landesamt für Verfassungsschutz durch die politische Verantwortung der Landesregierung bestimmt.
(3) Jedes Mitglied kann den Zusammentritt und die Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission verlangen.
(4) Die Parlamentarische Kontrollkommission kann beschließen, daß ihr Akteneinsicht zu gewähren ist. Die Landesregierung entscheidet über die Akteneinsicht im Rahmen ihrer politischen Verantwortung, insbesondere unter Berücksichtigung des notwendigen Quellenschutzes.
(5) Die Parlamentarische Kontrollkommission unterrichtet unter Beachtung der Geheimhaltungspflichten den Landtag alle zwei Jahre über ihre Tätigkeit.
§§22-25 NVerSchGE
§ 22
Die parlamentarische Kontrolle auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes übt unbeschadet der Rechte des Landtages und seiner sonstigen Ausschüsse ein besonderer Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes aus.
§ 23
(1) Der Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes soll aus mindestens sieben Abgeordneten des Landtages bestehen.
(2) Jede Fraktion erhält mindestens einen Sitz. Die Verteilung aller Sitze bestimmt sich nach der Geschäftsordnung für den Niedersächsischen Landtag. (…)
§ 24
(1) Die Landesregierung ist verpflichtet, den Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten. Hierzu gehört auch das Tätigwerden von Verfassungsschutzbehörden anderer Länder im Lande Niedersachsen gemäß §2 Abs. 2 sowie die Herstellung des Benehmens für das Tätigwerden des Bundesamtes für Verfassungsschutz nach § 5 Abs. 2 Bundesverfassungsschutzgesetz.
(2) Der Ausschuß hat auf Antrag mindestens eines seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünften, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie auf Anhörung von Auskunftspersonen. Die besonderen Rechte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse nach Art. 11 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung bleiben unberührt.
(3) Soweit dies erforderlich ist, um vom Bund oder von einem deutschen Land erhebliche Nachteile abzuwenden, dürfen Auskünfte, Akteneinsicht, Zutritt und die Anhörung von Auskunftspersonen davon abhängig gemacht werden, daß die Tatsachen, die dem Ausschuß hierdurch bekannt werden, nach Maßgabe der Geschäftsordnung des Landtages vertraulich behandelt werden. Genügt dies nicht, kann die Landesregierung bestimmten Kontrollbegehren widersprechen; sie hat das vor dem Ausschuß zu begründen.
(4) Mitarbeiter der Verfassungsschutzbehörde dürfen in dienstlichen Angelegenheiten Eingaben an den Ausschuß ihr Angelegenheiten des Verfassungsschutzes richten, die dieser abschließend bescheidet. (…)
§ 25
(1) Für die Beratungen des Ausschusses für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes gelten die Vorschriften der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages. Soweit hiernach Beratungen vertraulich stattgefunden haben, kann der Ausschuß mit den Stimmen von zwei Dritteln seiner Mitglieder die Vertraulichkeit aufheben; § 24 Abs. 3 satz 2 findet entsprechende Anwendung. Die Aufhebung der Vertraulichkeit von Beratungsgegenständen, die in der Verantwortung des Bundes oder eines anderen Landes fallen, ist nur mit deren Zustimmung möglich.
(2) Der Ausschuß berichtet dem Niedersächsischen Landtag im Abstand von zwei Jahren über seine Tätigkeit.
(…)
9. Datenschutzbeauftragter als Ombudsmann für Nachrichtendienste
Die besondere Schwierigkeit, geheime Nachrichtendienste parlamentarisch zu kontrollieren, hat dazu geführt, daß die Humanistische Union bereits vor Jahren Beauftragte des Parlaments für Nachrichtendienste gefordert hatte. Im Rahmen der Beratungen des BVerfSchG wurde dieses im Rahmen der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 23. 6. 1989 erneut vorgebracht. Dabei wurde darauf hingewiesen, daß auch die Datenschutzbeauftragten, die im Laufe der Jahre besondere Kompetenz in Sachen Verfassungsschutzbehörden erworben hatten, diese Aufgabe wahrnehmen könnten. Den ersten Schritt in diese Richtung ist das BVerfSchG in § 15 Abs. 4 gegangen. Dort ist festgelegt, daß im Falle der Auskunftsverweigerung der Betroffene unterrichtet werden muß, daß er den Datenschutzbeauftragten anrufen kann. Niedersachsen hat diesen Gedanken weiterentwickelt und festgelegt, daß der Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes den Datenschutzbeauftragten beauftragen kann, „die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit des Landesamtes zu überprüfen“. Auch dabei sind besondere Rechte für eine Ausschußminderheit vorgesehen: Der Ausschuß muß einen Antrag auf Beauftragung entsprechen, wenn diese mindestens ein „Viertel seiner Mitglieder“ wollen.
In Thürigen gibt es nur die dem BVerfSchG entsprechende Regelung.
§ 26 Abs. 1 NVerfSchGE
— Der Ausschuß für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes hat auf Antrag von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder im Einzelfall die Landesbeauftragten für den Datenschutz zu beauftragen, die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz zu überprüfen. Die Befugnisse der oder des Landesbeauftragten richten sich nach den Bestimmungen des Niedersächsischen Datenschutzgesetzes.
Zusammengestellt von Jürgen Seifert
aus: vorgänge Nr. 117, S. 128-135