Der Verfassungsschutz war in etliche Skandale verwickelt. Sein vorläufiger und bis jetzt bekanntester Höhepunkt fand sich wohl im gesamten Komplex um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Trotz der vielen V-Leute im NSU-Umfeld stellte der Inlandsgeheimdienst in allen Jahren der Mordserie in seinem öffentlichen „Verfassungsschutzbericht“ keine rechtsterroristischen Strukturen fest. Nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe wurden in mehreren Verfassungsschutzämtern Akten geschreddert. Bis heute verweigern Zeugen des Geheimdienstes, wie der bei einem Mordfall anwesende Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme und der damalige Präsident des hessischen Verfassungsschutzes, in Untersuchungsausschüssen und im NSU-Prozess die Aussage oder haben erhebliche Gedächtnislücken.
Seitdem die Kernmitglieder der NSU-Terrorzelle Bönhardt, Mundlos und Zschäpe im Jahr 1998 in den Untergrund abgetaucht waren und ihre Mordserie begann, gab es folgende Vermerke zum Rechtsterrorismus in den Bundesverfassungsschutzberichten:
1998: „Zur Zeit gibt es in Deutschland keine rechtsterroristischen Organisationen und Strukturen.“
2001: „in der rechtsextremistischen Szene gibt es keine handlungsfähigen terroristischen Strukturen und kein Konzept für einen zielgerichteten bewaffneten Kampf.“
2002: „Es gibt keine rechtsterroristischen Gruppierungen und keine Bestrebungen zum Aufbau eines zielgerichteten ‚bewaffneten Kampfes‘. Militante Rechtsextremisten lehnen Terrorismus ab, dieser nur ‚das System‘ stärke und im Volk auf Unverständnis treffe.“
2003: „Gegen die Münchener Kameradschaft Süd wird wegen des ‚Verdachts einer rechtsterroristischen Vereinigung‘ ermittelt. Sie hatte einen Sprengstoffanschlag auf die Münchener Synagoge geplant. ‚Anhaltspunkte für terroristische Aktivitäten anderer Rechtsextremisten lagen im Jahr 2003 nicht vor.“
2004: „Anhaltspunkte für terroristische Absichten weiterer Rechtsextremisten lagen 2004 nicht vor, allerdings beschlagnahmten die Sicherheitsbehörden wiederholt Waffen und Sprengstoff.“
2005: „Rechtsextremisten zeigen sich vielfach fasziniert von Waffen und Sprengstoffen. […] Der überwiegende Teil der rechtsextremistischen Szene lehnt aus taktischen Gründen Gewaltanwendung zur Systemüberwindung ab. Eine terroristische Vereinigung gilt als allzu leicht zu enttarnen.“
2006: „Rechtsterroristische Strukturen waren 2006 in Deutschland nicht feststellbar.“
2007: „Rechtsterroristische Strukturen waren 2007 in Deutschland nicht feststellbar.“
2008: „Rechtsterroristische Strukturen waren auch 2008 in Deutschland nicht feststellbar.“
2009: „Wie in den Vorjahren waren auch 2009 in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar.“
2010: „Auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar.“
Diese Übersicht finden Sie auch in der Publikation: Wer schützt die Verfassung? Kritik zu den Verfassungsschutzbehörden und Perspektiven jenseits der Ämter. Erweiterter Tagungsband zur Tagung am 1. Februar 2013 in Dresden. Hrsg: Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 2013.
Die Kampagne Blackbox-Verfassungsschutz Stellt in ihrem „dunklen“ Kapitel zum Bundesverfassungsschutzbericht 2014 die NSU-Morde den Original Auszügen aus den Landesverfassungsschutzberichten der jeweils zuständigen Behörde gegenüber. Das Versagen auch der Landesbehörden des Verfassungsschutzes bei der Erkennung des Rechtsterrorismus wird damit deutlich.
Enver Şimşek wurde am 9. September 2000 am Rande einer Ausfallstraße im Osten Nürnbergs mit acht Schüssen aus zwei Pistolen niedergeschossen.
Der bayerische Verfassungsschutzbericht zu diesem Jahr vermerkt: „Hinweise auf die Gründung bzw. Existenz organisierter terroristischer Strukturen sind in Bayern bislang nicht erkennbar. Ebenso wenig haben sich sich in Bayern Hinweise auf eine zielgerichtete Verwendung von Waffen ergeben.“1
Abdurrahim Özüdoğru wurde am 13. Juni 2001 in einer Änderungsschneiderei in der Nürnberger Südstadt mit zwei Kopfschüssen getötet.
Habil Kılıç wurde am 29. August desselben Jahres in München-Ramersdorf in seinem Geschäft erschossen.
Der Vermerk des bayerischen Verfassungsschutzbericht zu diesem Jahr: „Die aktuelle Diskussion über den Einsatz von so genannten V-Leuten in der NPD ist wichtig. Es muss klar werden, dass ein Nachrichtendienst nicht auf diese Quellen verzichten kann und diese ein legales Mittel darstellen, Informationen über die teilweise abgeschottete extremistischen Szene zu sammeln.“2
Süleyman Taşköprü wurde am 27. Juni 2001 in Hamburg-Bahrenfeld mit drei Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen ermordet.
Der Hamburger Verfassungsschutzbericht vermerkt über dieses Jahr: „Obwohl in der Öffentlichkeit immer wieder kontrovers über die mögliche Existenz rechtsterroristischer Strukturen diskutiert wird, gibt es nach übereinstimmender Einschätzung aller Sicherheitsbehörden gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland keine entsprechenden Bestrebungen. Die Verfassungsschutzbehörden definieren den Begriff Terrorismus als den von Vereinigungen im Sinne von § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) nachhaltig geführten Kampf zur Durchsetzung politischer Ziele mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen. In Deutschland sind gegenwärtig keine rechtsextremistischen Gruppen oder Organisationen bekannt, die in diesem Sinne handlungsfähig sind. Ein politisches Konzept für einen bewaffneten Kampf ist nicht erkennbar und die große Mehrheit der Rechtsextremisten distanziert sich nach wie vor von terroristischer Gewalt als Mittel der Politik.“3 […]Im Bereich des Rechtsextremismus waren 2001 keine grundsätzlich neuen Entwicklungen festzustellen.“4 „[…] Rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten werden ganz überwiegend spontan und häufig unter starkem Alkoholeinfluss begangen. Zielgerichtete Tatvorbereitungen sind auch im Berichtszeitraum nur in Ausnahmefällen festgestellt worden.“5
Das Vorwort des Berichts ist mit folgendem Satz überschrieben: „Allen muss klar sein: Terrorismus keine Chance!“6 Er ist ausschließlich auf islamistischen Terrorismus bezogen.
Mehmet Turgut wurde am 25. Februar 2004 im Rostocker Ortsteil Toitenwinkel mit drei Kopfschüssen ermordet.
Der Verfassungsschutzbericht der Abteilung für Verfassungsschutz beim Ministerium für Inneres und Sport führt im Berichtsjahr an: „Allerdings ist bei den organisierten und politisch aktiven Neonazis im Lande gegenwärtig nur ein geringes Maß an aktueller Gewaltbereitschaft zu beobachten. Sie lehnen terroristische Aktionen mehrheitlich als politisch kontraproduktiv ab und zeigen damit ein taktisches Verhalten zur Gewalt.“7
Beim Nagelbomben-Attentat in Köln vom 09. Juni 2004 explodierte eine ferngezündete Nagelbombe inmitten der Köln-Mülheimer Keupstraße, einem Zentrum türkischen Geschäftslebens. Dabei wurden 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Mehrere Ladenlokale wurden zerstört.
Weder dieser Anschlag, noch eine realistische Einschätzung zur Gewaltbereitschaft der rechten Szene finden in dem Berichtsjahr 2004 Erwähnung im Verfassungsschutzbericht NRW. Stattdessen heißt es dort: „Wegen ihrer grundsätzlichen Gewaltbereitschaft und ihrer menschenverachtenden Ideologie wird die Szene weiterhin aufmerksam durch die Verfassungsschutzbehörde beobachtet.“8
İsmail Yaşar wurde am 9. Juni 2005 in seinem Verkaufscontainer in der Nürnberger Scharrerstrasse mit fünf Schüssen in Kopf und Oberkörper getötet.
Theodoros Boulgarides wurde am 15. Juni desselben Jahres in seinem Geschäft in München-Westend erschossen.
Für den Berichtszeitraum 2005 heißt es im bayerischen Verfassungsschutzbericht: „Das typische Ablaufmuster für rechtsextremistisch motivierte Gewalt ist gleich geblieben: Nach gezielten anfänglichen Provokationen der Angreifer kommt es bei geringstem Anlass zu Tätlichkeiten und massiver Gewaltanwendung gegen das Opfer.“9 Außerdem heißt es: „der Tatentschluss [entstand] vielfach spontan aus gruppendynamischen Prozessen gefördert durch Alkohol und Musik mit rechtsextremistischen Texten.“10
Mehmet Kubaşık wurde am 4. April 2006 in seinem Geschäft in der Dortmunder Nordstadt ermordet.
Im Berichtsjahr 2006 vermerkt der Verfassungsschutz in NRW: „Die Angehörigen der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene bleiben eine Minderheit. Sie sind einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt und stellen innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums keine bedeutsame Größe dar.“11
Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel durch zwei Kopfschüsse getötet.
Andreas Temme, der V-Mannführer des hessischen Verfassungsschutzes war damals am Tatort. Trotzdem kommt das Thema Rechtsterrorismus im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2006 in Hessen nicht vor. Volker Bouffier, damals Innenminister des Landes schreibt im Vorwort des Berichts: „Der Verfassungsschutz in Hessen ist gut aufgestellt. Dies ist das Ergebnis der guten Arbeit, die das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz leistet.“12 Innenminister Bouffier verhinderte die Befragung der von Temme geführten Quellen durch die Staatsanwaltschaft.13 Er ist heute hessischer Ministerpräsident in einer schwarz-grünen Landesregierung und bezeichnet die Fragen nach dem Wissen des „Verfassungsschutzes“ als „Unverschämtheit“.14
Quellen: Alle Zitate im Original aus den jeweiligen Verfassungsschutzberichten.
Harzendorf in: Wer schützt die Verfassung? Kritik zu den Verfassungsschutzbehörden und Perspektiven jenseits der Ämter, Schriften zur Demokratie, Dresden 2013, S. 94
Naturfreunde, Kampagne Blackbox-Verfassungsschutz Das dunkle Kapitel – Verfassungsfeindliche Bestrebungen inländischer Geheimdienste
- Verfassungsschutzbericht 2000, München 2001, S. 26
- Verfassungsschutzbericht Bayern 2001, München 2002, S. 3
- Verfassungsschutzbericht 2001, Hamburg 2002, S. 108
- Freie und Hansestadt Hamburg / Behörde für Inneres – Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2001, aaO. (FN 15), S. 90
- Freie und Hansestadt Hamburg / Behörde für Inneres – Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2001, aaO. (FN 15), S. 105
- Freie und Hansestadt Hamburg / Behörde für Inneres – Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2001, aaO. (FN 15), S. 3
- Verfassungsschutzbericht 2004, Schwerin 2005, S. 3
- Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2004, Düsseldorf 2005, S. 89
- Verfassungsschutzbericht 2005, München 2006, S. 148
- Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, Verfassungsschutzbericht 2005, aaO. (FN 19), S. 14
- Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2006, Düsseldorf 2007, S. 58
- Verfassungsschutz in Hessen. Bericht 2006, Wiesbaden 2007, S. 7
- Verena Grün, »Schon alles aufgearbeitet? Der hessische NSU-Untersuchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf« in: LOTTA – Antifaschistische Zeitschrift aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 56 (2014), S. 17–18, 17
- NSU: Bouffier nennt NSU-Vorwürfe eine Unverschämtheit, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-02/volker-bouffier-nsu-prozess-hessen-verfassungsschutz
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