Verfassungsschutz deckt NSU: Aktion und Prozesstag in München

Gestern morgen in München: Rund 30 Bürger*innen demonstrieren vor dem Oberlandesgericht für die Abschaffung des Verfassungsschutzes als Konsequenz aus seinen Verstrickungen in das NSU-Umfeld und die bis heute fehlende Aufklärung darüber. Ihr Ruf „Verfassungsschutz – abschaffen!“ schallt über den Platz, über den die Prozessteilnehmer*innen in das Gerichtsgebäude strömen. Denn bald soll im NSU-Prozess zum ersten Mal ein ranghoher Verfassungsschutzbeamter aussagen: Lutz Irrgang, der damalige Direktor des hessischen Verfassungsschutzamtes, als 2006 in einem Kasseler Internetcafé der Mord an Halit Yozgat begangen wurde. Da saß sein Mitarbeiter und V-Mann-Führer Andreas Temme am Tatort. Bis heute beteuert er, nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Und sein Geheimdienstchef Irrgang deckte bisher diese Aussage. Wird er heute mehr sagen?

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Die Aktivist*innen der Kampage „Verfassungsschutz abschaffen!“ der Humanistischen Union halten ihre Banner in die Höhe. Einer von ihnen hat sich als Verfassungsschutz-Beamter verkleidet. Mit Schlapphut, Sonnenbrille und Trenchcoat hält er einen Pinsel mit roter Farbe in der Hand. Jetzt malt er auf einem Plakat mit den Fahndungsfotos des NSU-Mordtrios den drei Täter*innen zu ihrer Unkenntlichkeit Balken über die Augen. So wie der Verfassungsschutz jahrelang trotz vieler V-Leute im direkten Umfeld des NSU nicht zum Aufdecken der rechtsradikalen Mörder*innen beigetragen hat. So wie er nach ihrem Auffliegen unzählige Akten schredderte, statt sie den Ermittlungsbehörden zu übergeben. Und so wie seine Beamten bis heute vor Gericht und Untersuchungsausschüssen Aussagen verweigern und an Gedächtnisverlust leiden, anstatt zur Aufklärung der Morde beizutragen.

Im Gerichtssaal
Bei der Vernehmung des hessischen Geheimdienstchefs Irrgang ging es darum, ob Temme ihm oder anderen Mitabeiter*innen gegenüber mehr gesagt habe als der Polizei. Das geht nämlich aus einem Gesprächsprotokoll hervor, das die Polizei anfertigte. Sie horchte damals die Telefonleitungen des Verfassungsschutzes ab, weil Temme für einige Zeit als Tatverdächtiger galt. Das Protokoll haben Nebenkläger*innen in Karlsruhe in der Bundesanwaltschaft gefunden. Die Nebenkläger*innen kritisieren nun, dass diese wichtigen Informationen nicht längst von der Staatsanwaltschaft selbst eingebracht wurden. Ihnen wird der Zugang zu den Informationen erschwert, indem ihnen z.B. das Kopieren der Akten verboten ist.

Irrgangs Auftritt war ganz der eines Geheimdienstlers: er machte allgemeine Angaben, sagte kein Wort zu viel und ließ vieles im Dunklen. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lehnte sich entsprechend entspannt zurück, schaute gelangweilt oder quatschte mit ihren Verteidigern. Von Irrgang hatte sie rein gar nichts zu befürchten.

Durch die geschickten Fragen der Ankläger machte Herr Irrgang allerdings eine sehr unglaubwürdige Figur. Ein Geheimdienstchef, der nicht weiß, was seine Mitarbeiter*innen tun und der bei so einem ungeheuerlichen Vorfall wie dem Verdacht, einer seiner Mitarbeiter*innen habe einen Mord begangen, nicht auf die Idee kam, dies innerhalb seiner Behörde aufzuklären? Uns Zuschauern erschien das sehr unplausibel. Aber genau das behauptete Herr Irrgang.

Er habe nach dem Mord an Halit Yozgat nicht mit Herrn Temme gesprochen und auch nicht mit seinen Mitarbeiter*innen über den Angeklagten Temme. „Ich bin heute noch stolz darauf, mit welcher Ruhe das Amt seine Geschäfte fortgeführt hat“ trotz des damaligen Aufruhrs, sagte Irrgang. Erst bei Temmes Suspension habe er kurz mit ihm gesprochen und von ihm nichts Neues erfahren.

Dass der Verfassungsschutz der Polizei Informationen vorenthielt und Temme intern deckte, daran konnte sich Irrgang nicht mehr erinnern. In einem polizeilichen Protokoll zu einem Treffen, bei dem Irrgang absagte und sich von einem anderen Mitarbeiter vertreten ließ, ohne anscheinend je mit diesem über die Ergebnisse des Treffens zu sprechen, heißt es: „Der Verfassungsschutz zeigte kein Interesse an der Kooperation mit der Polizei.“ Der Vertreter des Verfassungsschutzes soll gesagt haben: „Wir haben es doch hier nur mit einem Mordfall zu tun.“

Warum stellt sich der Verfassungsschutz so vehement schützend vor seine Mitarbeiter und V-Leute? Weil er darum fürchtet, dass ihm V-Leute abspringen. Herr Irrgang sagte es auch heute im Gericht: Es müsse ein Vertrauen zwischen Verfassungsschutz und seinen Quellen gewahrt bleiben. Deshalb sagte er der Polizei nichts. Der Schutz dubioser Rechtsradikaler, die ihn mit fragwürdigen Informationen versorgen, ist dem Verfassungsschutz wieder einmal wichtiger als die öffentliche Aufklärung eines Mordes. Das ist enttäuschend. So hat der Verfassungsschutz heute einmal mehr überzeugend seine Unsinnigkeit und seine Gefahr für die Demokratie dargestellt.

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Der Fall Temme wird weiter im NSU-Prozess behandelt. Herr Temme selbst wurde am selben Tag noch vernommen. Und sein Vorgesetzter Herr Fehling, der vorgestern ins Gericht geladen war und überraschend wegen Krankheit absagte, wird auch vernommen. Vielleicht kann er sich an mehr erinnern. Eine seiner Mitabeiter*innen legte dies bei ihrer Vernehmung zumindest nahe. Aber: Wir haben es ja hier mit dem Verfassungsschutz zu tun. Können wir ihm mehr zutrauen als zu verheimlichen, den NSU zu vertuschen und seine Akten zu schreddern?

Links und Dokumente:
Unsere Pressemitteilung
Astrids Rede auf der Aktion
Thüringer Allgemeine mit Bild unserer Aktion
Zeit online erwähnt unsere Aktion: Die Ruhe des Verfassungsschutzes
Tagesspiegel: Hessischer Verfassungsschutz: kooperiert oder gemauert?
SZ: Was der Verfassungsschutz hätte sehen müssen

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