Wolf Dieter-Narr
Nach der verfassungsgerichtlichen Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens
Einige Erinnerungstupfer zum Sachverhalt. Am 18. März 2003 hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts beschlossen, die Verfahren gegen die NPD einzustellen. Bei diesem Beschluss handelte es sich um eine 3:4-Entscheidung. Sie galt nicht der Frage, ob die NPD verfassungswidrig im Sinne von Artikel 21 Abs. 2 GG sei. Allein um eine Prozessentscheidung war es zu tun. Die Richterin Osterloh und die zwei Richter Hassemer und Broß verhinderten mit ihrem Votum die Eröffnung des Hauptverfahrens. Dazu hätte es einer Zweidrittelmehrheit bedurft. Die Minderheit der in der Prozessentscheidung entscheidenden Richter ließ das Verfahren platzen, weil ihr die Verbotsanträge mangelhaft fundiert erschienen.
Vorausgegangen war eine jahrelange, von allen Parteien geführte Verbotsdiskussion. Der Bundesinnenminister und seine Länderkollegen schürzten diese 2001 schließlich zu einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht. Der Antrag wurde von der Mehrheit des Bundestages und all seinen etablierten Parteien mitgetragen. Die Gefahr, die der Bundesrepublik Deutschland von der NPD und ihren Anhängern drohe, wurde groß, fast riesig gemalt.
Die Diskussion, ob die NPD mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts verboten werden solle oder ob eine politische Auseinandersetzung mit ihr vorzuziehen sei, wurde auch im Grundrechte-Report geführt (vgl. die kontroversen Beiträge in der Ausgabe 2001 von Bela Rogalla und mir, S. 176 ff. und 182 ff.). Sie ist nach der negativen Prozessentscheidung des Gerichts mit einem Schlag in sich zusammengesackt wie die Fontäne eines Springbrunnens, dem der Druck wegbleibt. Könnte darin schon die wichtigste Lehre des gesamten Verfahrens bis zum Verfassungsgericht bestehen? Dass die Gefahr, die der lebendigen Verfassung der BRD durch die NPD drohe, und auf die mit einem harten Gerichtsverbot reagiert werden müsse, ohne zureichenden Verfassungssinn und Verstand aufgebauscht worden ist? (In diese Richtung zielen auch einige der Argumente, die von den drei ablehnenden Karlsruhern vorgetragen worden sind.) Dass in Sachen Verbotsantrag nicht nur eine Konkurrenz zwischen den politischen Exekutiven und ihren Parteien bestand, wie sie auch sonst im weiten Feld »Innere Sicherheit« zu beobachten ist: Spieglein, Spieglein an der populistischen Wand, wer ist die Strengste im ganzen Land, wenn es ans Strafen und Verbieten geht? Dass vielmehr andere Ziele mit dem Verbotsantrag verfolgt wurden, nicht zuletzt das Ziel, das politische Spektrum »rechts« wie »links« eng zu begrenzen und — in einer Art Verbotsmahnmal — zu demonstrieren, wie prächtig die BRD ihre arge Vergangenheit »bewältigt« hat? Nach der Aufgeregtheit all der Verbotswütigen herrscht weiterhin kräftige Vorurteilsdämmerung im Land, von all den Verbietern im angeblich antiterroristischen Kampf noch kräftiger gefordert. Dieser richtet sich nicht zuletzt gegen Ausländer, allgemein Andere und Asyl Suchende.
Bund und Länder gemeinsam gegen die NPD
Insbesondere die Phalanx der Innenminister, auch Verfassungsminister genannt, zog kühn mit der Verbotslanze gegen die NPD zu Felde. Die Herren Schily und Beckstein bildeten die Schwabenspitze. Lieb Vaterland magst ruhig sein, treu steht die Innenministerwacht am Spreerhein. Die Innenminister, die die Parlamente wie selbstverständlich in ihrem Tross mitführten, bedienten sich ihrerseits ihrer Verfassungsschutzämter. Diese Ämter, früh in den 1950er Jahren geschaffen, um der »streitbaren Demokratie« zu dienen, bis 1990 vom Kalten Krieg schier restlos durchdrungen, sind vor allem dazu da, die eigenen Bürger auszuspähen. Das tun sie, indem sie alles Mögliche (und auch Unmögliche) sammeln und als »Erkenntnisse« ihren ministeriellen Herren weitergeben. Das tun sie auch, indem sie, geheimdienstlich, Verdeckte Ermittler einsetzen. Diese, so meinen die Inneren Sicherer, seien notwendig angesichts der Zunahme der so genannten, freilich schon begriffsdiffusen Organisierten Kriminalität und auch im Fall der verfassungswidrigen Potenz einer Partei wie der NPD. Nun stellte sich jedoch heraus, für Kenner nicht überraschend, schon bevor der Verbotsantrag nach Karlsruhe abging, insbesondere aber während er beim Gericht lag, dass die Verdeckten Ermittler zwar fündig geworden waren, ihnen jedoch niemand trauen konnte. Die informationelle Qualität ihrer Nachrichten war angesichts ihrer zuweilen vergangenen, zuweilen noch währenden Doppelmitgliedschaft in NPD und Verfassungsschutz selbst mit äußerster Vorsicht nicht mehr zu genießen. Ein Possenspiel hob an. Niemand weiß bis heute genau zu sagen, wie viele Doppelagenten eingesetzt worden sind. Die Verfassungsschutzämter trauen einander wechselseitig nicht. Sie wollen vor allem ihre Informanten schützen. Deren Information kann jedoch von niemand öffentlich — oder gerichtlich —, mit einem Modeausdruck gesprochen, evaluiert werden. Die Innenminister ihrerseits entlarvten sich in schierer Unkenntnis. Sie beherrschten nicht nur ihr Instrument, die Verfassungsschutzämter, nicht, die ihrerseits ihr Instrument, die Verdeckten Ermittler, nicht beherrschten. Vielmehr verläuft die Bestimmungsdynamik umgekehrt. Die bestenfalls zwielichtigen Verdeckten Ermittler, die verdeckt bleiben müssen, weil sie sonst nicht mehr ermitteln können, bestimmen durch das, was ihnen informationell wertvoll erscheint, die Verfassungsschutzämter. Diese und ihr Verfahren sind ihrerseits schon zu bürokratisch kompliziert und auf Schutz nicht der Verfassung, wohl aber der Verdeckten Ermittler geeicht. So kommt es, dass die Innenminister dieses wundersam die Demokratie verteidigende Instrument entweder nur gläubig benutzen können oder aber ihren eigenen Verstand gebrauchen müssten. Dieser ist ihnen aber in der Not vieler dringender Geschäfte schier abhanden gekommen. Wäre es da nicht fast besser, man verdeckte die Verfassung? Dann könnten wir alle endlich den verdeckt ermittelten Informationen trauen. Oder, besser noch, sie dorthin werfen, wohin sie gehören: auf den riesigen Haufen Datenmüll.
Nur milde Kritik aus Karlsruhe
Die drei Richter, die das Verfahren blockierten, taten recht. Erstaunlich ist eher, dass sie sich in ihrer Kritik an der aufgebauschten NPD-Gefahr und an der Fahrlässigkeit der Innenminister und der Verfassungsschutzämter so vornehm zurückhielten — das Wohl einer wahrhaft demokratisch-grundrechtlichen Verfassung hätte hier eher noch mehr Entschiedenheit geboten. Noch erstaunlicher ist, dass immerhin die Mehrheit der Richter das Verfahren eröffnen wollte, bereit, auf der Basis besagten Mülls zu urteilen, beeindruckt von dem mediengerecht erzeugten »Notstand der Demokratie«, der durch die NPD herbeigeführt werde. Ob die Karlsruher Richter das Grundgesetz und seine Normen nicht radikal genug und zu sehr im Lichte aktuellen politischen Eifers sehen?
Wer schützt die Verfassung? Ein weites Feld. Diejenigen, die auszogen, durch das Verbot der NPD die Verfassung streitbar, abwehr- und verteidigungsbereit zu retten — ach diese verbraucht leeren Adjektive! —, haben sie zwar nicht gefährdet. Sie haben jedoch aufgedeckt, dass wir, Bürgerinnen und Bürger, uns weder auf den amtlichen Verfassungsschutz noch auf die überforderten und politisch repressiv spielenden Innenminister, noch auf das mitlaufende Parlament oder die autistischen Parteien verlassen können. Das immerhin wäre eine Botschaft des an mehrfacher Unfähigkeit gescheiterten Verfahrens gegen die NPD. Wenn diese Botschaft denn erfahren, ja erlebt würde: Mehr Demokratie wagen, das heißt zuerst: mehr den Bürgerinnen und Bürgern zutrauen — selbst dann, wenn sie ab und an politisch irren (zu einem Kommentar mit mehr verfassungsrichterlichen Zitaten vgl.>Bürgerrechte & Polizei</CILIP 2/2003, S. 72 ff.).
Grundrechte-Report 2004, S.155-158